Schwarzes Blut: Thriller (German Edition)
Rotz lief ihm von der Nase in den Mund.
Plötzlich sah er Skye so deutlich vor sich, als würde sie vor ihm stehen. Sie redete sehr leise, wie sie es immer tat, wenn sie ihm eine Gutenachtgeschichte vorlas.
»Du musst jetzt ein großer Junge sein, Timmy«, sagte sie. »Sei tapfer. Wir kommen, dein Daddy und ich. Wir werden dich retten.«
Ihre Stimme beruhigte ihn. Sein Herz schlug langsamer. Jetzt hatte er weniger Angst und zappelte auch nicht mehr herum.
Der Strahl einer Taschenlampe durchschnitt die Finsternis und richtete sich dann auf ihn. Er hörte die Stimme des Mannes, der ihm noch mehr Angst machte als die Frau, die wie Skye aussah.
»Hey, kleiner Mann, wie geht’s uns denn?«
Die Stimme, die diese netten Worte sprach, war tief und rau und gemein. Der Mann warf etwas, das gegen Timmys Kopf prallte und scheppernd auf den Metallboden fiel.
Timmy schmeckte Blut im Mund. Alles verschwamm vor seinen Augen, und dann war plötzlich der Mann vor ihm und gab ihm eine Ohrfeige.
»Aufgewacht, Sonnenschein, aufgewacht.«
Der Lichtkegel schwenkte von Timmy auf einen großen Metallkasten. Ein Benzinkanister. Das wusste er, weil Daddy immer einen hinten am Jeep festband, wenn sie einen Campingausflug machten.
Der Mann schraubte den Deckel ab, nahm den Kanister beim Henkel und schüttete Benzin über Timmy, sodass sein Gesicht und sein Körper und seine Klamotten klatschnass wurden. Dann ging der Mann zur Leiter, wobei er eine Benzinspur hinter sich herzog.
Der Mann warf den leeren Kanister beiseite und stieg die Leiter hinauf. Er bewegte sich so komisch ruckartig wie die Marionetten in den alten Kindersendungen im Fernsehen. Mit einem Grunzen kletterte er die Leiter hinauf und nahm die Taschenlampe mit. Timmy saß wieder allein im Dunkel.
Da fing die Horrorshow an. Tote Menschen kamen aus der Finsternis auf ihn zu. Tote Frauen und Männer und auch Kinder, alle verletzt und blutig. Sie schrien grässlich, als der Marionettenmann zwischen ihnen herumlief und auf sie einstach und sie verbrannte und aufaß. Er grinste Timmy mit roten Zähnen an.
Irgendwann gelang es Timmy, die Horrorshow hinfort zu schreien. Jetzt, wo er benzingetränkt in der Finsternis lag, kapierte er, dass er sich Skye nur eingebildet hatte. Sie und sein Daddy würden ihn nicht retten. Das hatte er sich nur ausgedacht, wie die Geschichten, die er Miss Marples in der Schule erzählte.
Niemand würde ihn retten.
Weil niemand wusste, dass er hier war. Nur die böse Frau und der Marionettenmann.
Da war es auch ganz egal, ob er weinte oder sich in die Hose machte, weil ihn ja niemand mehr wiedersehen würde.
Niemals.
54
Gene fuhr durch die Nacht. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, worum es sich bei der massigen Kreatur handelte, die im Heck des Streifenwagens kauerte. Sie roch wie ein wildes Tier und warf sich hinter dem Gitter hin und her, wobei sie tatsächlich hechelte.
Sollte sie zum Angriff übergehen, würde das dünne Drahtgitter sie nicht aufhalten. Eine reine, animalische Furcht überkam ihn, eine primitive Angst, die kurzzeitig sogar die Sorge um seinen Sohn verdrängte. Nur mit Mühe konnte er sich zum Weiterfahren zwingen. Er umklammerte das Lenkrad so fest, als könnte nur das ihn davon abhalten, auf die Bremse zu treten und vor dem schattenhaften Wesen, das er im Rückspiegel beobachtete, in die Wüste zu fliehen.
Wie konnte man es töten? Mit einer Silberkugel? Einem Pfahl durchs Herz? Gene war kurz vor einem hysterischen Anfall, als er sich an die vielen Horrorfilme seiner Teenagerjahre zu erinnern versuchte. Während Werwölfe und Vampire auf der Leinwand des Autokinos ihr Unwesen trieben, hatte er unbeholfen mit den Mädchen herumgefummelt. Das Kino war schon lange geschlossen. Die zerrissene Leinwand ragte wie ein primitives Götzenbild aus der Wüste, angebetet von langen Reihen einsamer Lautsprechersäulen.
Vorhin im Verhörzimmer war Skye lange genug Skye geblieben, um ihm erzählen zu können, dass sich Timmy in einem leeren Benzintank der alten Tankstelle in der Nähe des Milky-Way-Motels befand. Bevor die Verwandlung sie verstummen ließ, hatte sie so inbrünstig und aufrichtig geklungen, dass er weder die Wahrheit ihrer Worte anzweifelte noch gefragt hatte, woher sie das überhaupt wusste.
Lange hatte er in das Gesicht gestarrt, das mit jeder Sekunde Skye weniger ähnlich sah, bis er sich irgendwann hatte abwenden müssen. Sonst hätte er die Nerven verloren, Skye im Sheriffbüro schmoren lassen und die Sache in
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