Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
herausgenommen haben. Was dann kam, ließ sich nur anhand von Spuren rekonstruieren.
Als der Vater am Morgen aufstand, sah er, dass die Sicherung durchgebrannt war. Da es keine elektrischen Geräte gab, die in der Nacht liefen, konnte das nur eines bedeuten. Er zog die Stiefel an, die Wattejacke, setzte seine mit braunem Fell verbrämte Mütze auf – ihr hielt er übrigens bis ins Alter die Treue – und ging hinaus. Tauwetter hatte eingesetzt. Das Haus war ein flacher, langgezogener Bau, mit einem für Workutaer Verhältnisse unvorstellbaren Komfort: einer Dampfheizung. Die Deutschen haben den Affen erfunden, behauptet ein altes russisches Sprichwort, das bei aller Merkwürdigkeit doch Bewunderung ausdrücken sollte. So erstaunte es niemanden, dass im Haus des Hauptmechanikers die Öfen herausgerissen wurden. Stattdessen legten die Männer aus der Werkstatt durch den Zaun eine Rohrleitung, über die heißer Dampf aus dem Kesselhaus auf dem Lagergelände in selbstgebaute Heizkörper strömte. Die anderen Wohnungen des Hauses bekamen nach und nach auch einen Anschluss, so gab es kein Gerede. Bezahlen mussten sie nicht, in dem Gewirr aus Rohren und Leitungen fiel die Heizung nicht auf. Man fühlte sich fast wie im Kommunismus. Nur leider in Workuta.
Während alle so bequem heizten, die Alarmanlage blieb uns vorbehalten. Nun hatte sie ihre Praxistauglichkeit bewiesen. Der Vater ging um das Haus herum. Tatsächlich, unter dem Fenster, das nach hinten zur Lehmgrube blickte, sah er eine reglose Gestalt, im fahlen Licht des Morgens kaum zu erkennen. Der Mann lag unnatürlich verdreht, das Gesicht auf die rechte Seite in den Schneematsch gedrückt. Nichts zu hören. Kein Stöhnen, kein Röcheln.
Das sah nicht gut aus.
Für ihn nicht.
Und auch nicht für den Vater.
Egal, was der Kerl auf dem Kerbholz hatte, umbringen durfte man ihn nicht. Nur die Wochra oder der KGB. Aber ein Fenster, das tödliche Stromschläge austeilte, das würde kein Richter verstehen.
Vater schaute sich um. Wohin mit dem Mann? Oder der Leiche? Ja, Leiche. So reglos, wie der da lag, konnte es sich nur um einen Toten handeln. In die Lehmgrube schmeißen? Zum Fluss schleppen? Zu weit, zumal der Pfad an den Fenstern des Hauses vorbeiführte. Es konnte schon jemand wach sein. Also gab es nur einen Weg: auf den Hang, Richtung Lagerzaun. Der Wächter in der Bude schlief bestimmt. Und stand da nicht auch ein Strommast?
Der Vater ging schnell ins Haus. Er kam mit einer Restflasche Wodka zurück und tröpfelte etwas Schnaps in das Gesicht des Mannes, aber der wachte nicht auf. Immerhin, der Eindruck, man habe es mit einem Säufer zu tun, konnte hilfreich sein. Dann lud er sich den Körper auf die Schultern. Wenn sie den armen Teufel unter dem Mast fanden, war die Sache klar, dann wusste jeder, der wollte im Suff hinaufklettern. Dabei hatte es ihn eben erwischt. Starkstrom war bei dem nassen Wetter eine gefährliche Angelegenheit. Er lehnte ihn mit dem Rücken an den Mast, schob ihm die heruntergerutschte Mütze wieder auf den Kopf und warf die leere Schnapsflasche in den nassen Schnee. Mehr konnte er nicht tun.
Am Abend nach der Arbeit nahm der Vater nicht den üblichen Weg von der Werkstatt nach Hause. Er ging außen herum durch die Lagerzone und kam oberhalb der Wohnsiedlung an. Bis zu jenem Mast waren es dann nur noch ein paar Meter. Doch da lag niemand. Es waren auch keine Schleifspuren zu sehen.
Der Vater schmiss einen Schneeball an die Tür des Wachturms. Fluchend schaute der Soldat herunter:
«Was zum Teufel! Ach, du bist’s, Mechaniker? Was willst du?»
«Nichts Wichtiges, kannst gleich weiterdösen. Aber heute Morgen schlich hier ein Betrunkener rum, ich hatte schon Angst, der ist in die Lehmgrube gefallen. Hast du ihn vielleicht gesehen?»
«Nö. Hier war niemand.»
«Bist du sicher?»
«Ja, ganz sicher. Was geht dich der Hurenbock an? Ich stehe hier seit dem frühen Morgen, warte, dass endlich die Ablösung kommt. Da war nichts. Alles ruhig. Kein einziger Chui unterwegs.»
Damit war die Unterhaltung beendet. Der Vater ging erleichtert davon. Aha, Bürschlein, dachte er. Du hast dich wieder berappelt. Umso besser. Dass jemand heimlich die Leiche fortgeschafft hatte, konnte man ausschließen. Warum sollte das einer tun? Der Fund hätte sich, wie immer in solchen Fällen, sofort auf dem Rudnik herumgesprochen. Wie bei dem Urka, dessen Reste sie vor Wochen im Betonmischer, drüben auf der Baustelle für das neue Heizhaus, gefunden hatten.
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