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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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wusste nur er allein. Doch das Geschrei der Kinder «Ich bin tot! Ich bin tot!», das ertrug er nicht.
    Einen Moment blieb ich auf dem Rücken liegen. Dann spürte ich, wie die Eiseskälte, von Füßen und Händen herkommend, immer tiefer in mich hineinkroch. Trotz dicker Filzstiefel und der Handschuhe. Erst jetzt merkte ich, die Finger ließen sich nicht mehr bewegen. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich schon bei den letzten Sprüngen, mich nur noch mit den Ellenbogen abstützend, die Leiter hinaufgekrochen war. Mich packte das Entsetzen. Die Finger waren erfroren. Nur so konnte es sein. Sofort hatte ich das scheußliche Bild vor Augen: der Mann mit den schwarzen Zehen. Ich hatte ihn selbst gesehen. Einmal, im Sommer. Er saß im Hof auf unserem Karussell und wickelte die Fußlappen um die Stümpfe, die einmal seine Zehen waren. Es sah eklig aus. Einer von den Jungs sagte laut:
    «Alle abgefroren.»
    Das Bild konnte ich nicht vergessen.
    Und jetzt war ich dran. Keinen Finger konnte ich mehr bewegen, sosehr ich mich auch anstrengte. So, genau so, musste Erfrieren sein. Gerade noch mit Begeisterung tot, sprang ich auf und rannte um mein Leben. Die anderen schrien mir etwas nach, ich hörte sie nicht.
    Tarzan, mit seinem Laika-Winterfell für Kälte unempfindlich, saß vor der Tür auf dem Kasten mit der Kohle und hörte von weitem meinem Flennen aufmerksam zu. Im Gegensatz zu Kara, die sich gerne im Warmen nahe bei der Mutter in der Küche aufhielt, war er lieber draußen. Er betrachtete es als Strafe, wenn er rein sollte, zumal er seinen Auftrag, das Haus zu bewachen, sehr ernst nahm. Das hatten erst kürzlich ein paar Betrunkene erlebt. Einer wollte, vom Wodka benebelt, den Helden spielen. Bewaffnet mit einem Stock und unter dem Gejohle der Kumpane trieb er den Hund in die Enge. Tarzan wich dem Angreifer bis zur Hütte aus, darauf bedacht, dass die sonst straffgespannte Leine durchhängen und genug Raum für einen Angriff bieten würde.
    Tarzan bellte nicht. Bellen bedeutete immer Alarm. Und Alarm hieß, dass Vater oder Mutter beunruhigt würden. Dann würde man ihn ermahnen. Doch genau das wollte Tarzan nicht. Als der Betrunkene, von der Gefahr nichts ahnend, den Hund mit der blanken Hand zu fassen versuchte, hörte man nur noch ein grollendes Knurren und einen gellenden Schrei. Im Nu war der Arm des Angreifers blutüberströmt, man konnte nicht erkennen, ob es noch eine Hand gab. Der Mann krümmte sich vor Schmerz, da setzte der Hund zum Sprung an. Einer der Kumpane war schnell genug, zog den Mann an der Jacke zurück. Sie fielen in den Schnee, der sich rot färbte.
    Durch den Krach aufgeschreckt, klapperten auf dem Hof die Türen. Auch unsere Haustür flog auf. Im Türrahmen stand der Vater, das Jagdgewehr in der Hand. Ein Blick genügte.
    «Tarzan, bei Fuß!»
    Der Hund nahm den Platz an der Seite seines Herrn ein, siegesbewusst schaute er den fliehenden Männern nach. Man konnte es in seinen Augen lesen: Das nächste Mal gibt es mehr.
    Der Nachbar rief über den Platz:
    «Lorenz, was ist los bei euch?»
    «Ich glaube, die wollten einbrechen», antwortete der Vater.
    «Da knall sie doch ab, diese räudigen Kerle!»
    Die Miliz holte hier niemand, nicht aus einem solch geringen Anlass wie einer zerbissenen Hand. Versicherung? Die gab es in einer anderen Welt, nicht hier. Wer sich ungebeten einem Haus näherte, tat es auf eigene Gefahr.
    Ob der Rückzug der Männer von Dauer war, konnte keiner sagen. Der Vater schoss zur Abschreckung in die Luft. Nun wusste auch der dümmste Urka, dass mit den Leuten hier nicht zu spaßen war. Doch es blieb ein unruhiger Abend. Der Vater ließ das geladene Gewehr auch beim Abendessen neben sich stehen, jederzeit bereit, eine Attacke abzuwehren. Als es ans Schlafen ging, schaltete er die «Alarmanlage» ein. Das passierte nicht immer. Ein gefährliches Ding, er hatte sie selbst konstruiert. In den Doppelfenstern waren zwischen den Scheiben Gitterstäbe aus Eisen eingezogen und durch Drähte verbunden. Ein Kippschalter im Flur sorgte dafür, dass die Anlage bei Bedarf an das 220-Volt-Stromnetz des Hauses angeschlossen werden konnte. Wer einen Einbruch bei uns überlebte, der musste schon eine robuste Gesundheit haben.
    Einer wusste das ganz genau und würde es sicher nie in seinem Leben vergessen. Der Mann hatte es am Fenster des Kinderzimmers versucht. Die Hunde waren auf ihrem Streifzug, Pascha und ich schliefen fest. Der Einbrecher musste die äußere Scheibe vorsichtig

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