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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Die Genossin hatte nicht nur einen für die Arbeit im Parteiapparat, zumindest so, wie er ihn aus Russland kannte, etwas zu kurzen Rock, sondern der saß auch noch sehr eng. In Moskau wäre das undenkbar. Nicht weil es die Männer gestört hätte. Nein. Die anderen Frauen aber umso mehr, die verdienten Genossinnen, vornehmlich die mit besonders langer Parteimitgliedschaft. Ganze Scharen dieser Hyänen hielten bereits einen Lippenstift, selbst ein Spitzenkrägelchen für bourgeoises Teufelswerk. Dagegen schien Berlin schon sehr nahe beim restlichen Europa.
    In Kadens schlauchartigem Büro standen außer dem Schreibtisch nur zwei Stühle und ein Aktenschrank mit halb geöffneten Türen. Als einziger Schmuck blickte das in Goldrahmen gefasste Porträt Walter Ulbrichts von der Wand. Kaden bat den Gast, Platz zu nehmen. Er selbst wälzte seinen Körper in einen abgenutzten Ledersessel.
    «So, Genosse Lochthofen, nun erzähl mal, wie sehen deine Pläne aus?»
    Lorenz hatte sich auf dem Weg hierher einiges überlegt, aber jetzt, direkt mit der zu erwartenden Frage konfrontiert, war es in seinem Kopf wie leergefegt. Krampfhaft dachte er nach, suchte Zeit zu gewinnen. Sollte er alles erzählen? Die Emigration nach Moskau, die Arbeit in der Redaktion an der Wolga, die Verhaftung, die Verhöre in den Kellern des NKWD, die Schrecken des Lageralltags. Wo sollte er anfangen? Was sollte er besser für sich behalten? Was konnte nützen? Was konnte schaden? Langsam tastete er sich in das Gespräch, von dem vieles, wenn nicht alles abhing.
    «Als Erstes möchte ich mich bedanken, dass du dir die Zeit für mich genommen hast.» Er machte eine Pause.
    «Das ist doch selbstverständlich.»
    Kaden spürte die Unsicherheit seines Gastes, nun konnte er die Dinge selbst in die Hand nehmen. Was sollte ihm dieser Mann schon Neues von dort erzählen? Er kannte all ihre Geschichten, von denen eine unwahrscheinlicher klang als die andere. Kamen die Erzähler doch nicht aus Buchenwald oder Dachau, sondern vom kommunistischen Aufbau aus Karaganda, Magadan oder eben diesem Workuta. Namen, die eher nach einem Abenteuerroman als nach Wachtürmen, Tod und Vernichtung klangen. Nur bei den ersten drei, vier Fällen, damals vor Jahren, hatte er sich Notizen gemacht. Doch das, was er säuberlich mit blauer Tinte zu Papier brachte, Daten, Namen, Marschrouten, Paragraphen und Erklärungen, begann mit der ersten Zeile ein Eigenleben. Mehr als im Gespräch tat sich auf dem Papier eine bedrohliche Welt auf, die im genauen Gegensatz zur offiziellen Propaganda stand. Bald war ihm klar, dass von diesen Menschen, ja noch mehr von seinen Notizen Gefahr, äußerste Gefahr, ausging. Verbrennen, dachte er, am besten alles.
    Er schob Lorenz eine Schachtel Orient-Zigaretten zu, die bevorzugte Marke der ostdeutschen Funktionäre, stark, ohne Filter.
    «Wie ist es dir ergangen?»
    «Nun, wie soll es mir in Workuta ergangen sein? Es war kalt.»
    Lorenz zog langsam an seiner Zigarette.
    «Es war sehr kalt», fuhr er nachdenklich fort, «aber das ist jetzt Geschichte. Jetzt will ich hier anpacken. Und arbeiten, darauf kannst du dich verlassen, das kann ich. Sonst hätte ich da nicht überlebt. Das werden dir die Genossen, die mit mir dort oben waren, bestätigen.»
    «Ja, ja. Du meinst den Genossen Seydewitz und den Genossen Wissusek. Beide haben von dir nur Gutes berichtet. Das hat deine Sache hier beschleunigt.»
    Er ließ seinerseits genussvoll den Zigarettenqualm über den Schreibtisch wehen.
    «Beschleunigt?», fragte Lorenz mit leicht gereiztem Unterton zurück. All die Jahre der Ungewissheit, der Briefwechsel, der Bitten und Absagen – das nannten die hier «beschleunigt»? Fast wäre er laut geworden, doch er beherrschte sich. Er wusste, dass ihm sein Temperament böse Streiche spielen konnte. Auch wenn er tausendmal recht hatte, er musste jetzt die Nerven behalten.
    «Beschleunigt?», wiederholte er das Wort um einige Drehzahlen ruhiger. «Wie man’s nimmt. Es sind über zehn Jahre ins Land gegangen, bis die mich endlich rausgelassen haben. Mein erster Brief an Pieck, gleich nachdem ich das Lager verlassen durfte, muss in den Akten liegen.»
    «Nun, du sagst es selbst, das ist jetzt Geschichte», beeilte sich Kaden die unangenehme Wendung des Gesprächs zu beenden. «Du bist jetzt hier. Was schwebt dir vor?»
    Ja, was schwebte ihm vor?
    Natürlich war Lorenz bewusst, dass er ziemlich spät dran war. Die guten Plätze im neuen Deutschland besetzten längst andere.

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