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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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hielt an einer Häuserfront, die direkt an einem Kanal lag. Märkisches Ufer Nr.   8. Unsere erste Adresse auf deutschem Boden. Nachdem uns der Hausmeister das Zimmer im zweiten Stock angewiesen hatte, war Kaden bereits im Begriff zu gehen, doch in der Tür drehte er sich noch einmal um. Er griff tief in das Innere seiner Jacke, kramte eine speckige Brieftasche hervor und holte einige Geldscheine heraus:
    «Fast hätte ich es vergessen. Vierhundert Mark. Genosse Lochthofen, du müsstest hier unterschreiben.»
    Der Vater nahm das Geld, unterschrieb und blickte triumphierend zur Mutter: Siehst du, so großzügig sind sie hier. Habe ich es nicht versprochen, alles wird besser. Vierhundert Mark, mehr als der Durchschnittslohn eines Maurers in der Stalin-Allee.
    Ich ging zum Fenster, zog den Vorhang zur Seite und schaute in die Nacht. Die Stadt funkelte. Nicht so aufregend wie Moskau, aber auch wie eine große, geheimnisvolle Stadt. Ich sah einem Auto auf drei Rädern nach, das über die Kanalbrücke zuckelte. Eine alles ergreifende Beklommenheit stieg in mir auf. Ich kam mir allein und verlassen vor. Ich wollte nach Hause.
    Nach Workuta.
    Vater, Mutter und Pascha sortierten in den Koffern herum. Packten die einen Sachen aus, stopften andere hinein. Keiner nahm von mir auch nur die geringste Notiz. Ich legte mich auf mein Bett, das eingekeilt zwischen Schrank und Wand stand, und vergrub das Gesicht in den Kissen. Ich war müde und hatte Sehnsucht nach Tarzan. Er hatte im Norden bleiben müssen, bei den Nachbarn. Ich glaubte nicht, dass er es gut bei ihnen hatte, bestimmt vermisste er mich auch. Kara lebte nicht mehr, ein Laster hatte sie im Frühjahr unten am Fluss überfahren. Er saß im Morast fest. Dann, nach endlosem Wippen und Gasgeben, gelang es ihm, sich wieder herauszureißen. Der neugierige Hund konnte nicht schnell genug ausweichen. Als ich die Nachricht von den Jungs auf dem Hof hörte, rannte ich zum Wasser hinunter. Schon von weitem sah ich den Vater, wie er mit der Schaufel den Sand zu einem kleinen Hügel aufschüttete. Daneben Pascha. Sie wollten die Sache unter Männern ausmachen. Ich blieb zwei Schritte hinter ihnen stehen und weinte. Konnte einfach nicht aufhören, die blöden Tränen liefen über mein Gesicht. Seitdem ich denken konnte, gehörten die Hunde zur Familie. Nun waren sie beide nicht mehr da.
    Das Zuhause gab es auch nicht mehr.

V
    Das graue Gebäude mit seinen endlosen Reihen gleichförmiger Fenster machte einen bedrückenden Eindruck. Wie ein Zentralkomitee in so einen abweisenden Bau einziehen konnte, schien Lorenz unbegreiflich. Wenigstens tünchen hätten sie ihn können, Zeit genug nach dem Krieg war ja vergangen. Das Neue sollte hell und froh sein. Aber sie ließen das Haus wohl so, wie es die Nazis verlassen hatten. Einst gehörte es der Reichsbank. Nach Geld sah es nicht mehr aus.
    Kaden hatte ihn für zehn Uhr bestellt. Offiziell war die Parteizentrale noch nicht bezogen, aber einige Abteilungen des Apparats arbeiteten bereits dort. Lorenz meldete sich an der Pforte und durfte nach einem Rückruf passieren. Er stieg in den Paternoster. Polternd ging es nach oben. Eine Mitarbeiterin wartete schon. Er sah zunächst ihre Schuhe, mit halbhohen Absätzen, dann die Beine; sie trug diese neuen Strümpfe aus dem Westen, die keine Falten zogen. Das dünne Gewebe brachte ihre strammen Waden erst richtig zur Geltung. Nun war er mit den Augen auf Höhe ihrer Knie, die nur zwei Finger breit vom Rocksaum bedeckt waren. Gespannt wartete er auf den Fortgang der Dinge. Doch mit einem Mal ruckte der Kasten kräftig zur Seite und blieb stecken. Tüt, tüt, tüt, erklang das Notsignal. Lorenz starrte die Knie an und wusste einen langen Moment nicht, was zu tun sei.
    Die Frau beugte sich nach unten, steckte den Kopf durch die Öffnung und fragte:
    «Sind Sie der Genosse aus der Sowjetunion?»
    «Ja», antwortete Lorenz, «da scheint etwas kaputt zu sein.»
    «Das passiert öfter. Manchmal dauert es Stunden, bis sie das Ding wieder in Gang bringen. Ich habe mir angewöhnt, die paar Treppen zu laufen. Am besten, Sie versuchen, durch den Schlitz zu klettern. Kommen Sie, ich helfe Ihnen.»
    Sie streckte die Hand aus, Lorenz war froh, dass Kaden bei der Auswahl seiner Mitarbeiter auf eine kräftige Statur wert gelegt hatte. Fast flog er wie ein Korken aus einer Sektflasche aus dem Paternoster. Er schüttelte sich den Staub von den Händen, bedankte sich für die Hilfe und folgte der Frau über den Flur.

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