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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Es würde enorme Anstrengung kosten, sich nach vorn zu kämpfen, auch wenn er genau wusste, dass viele von denen, die heute in Berlin das große Wort führten, ihm an Erfahrung und Wissen um die Beschaffenheit dieser Welt, vor allem dieser besonderen, von den Russen geprägten Welt, nicht das Wasser reichen konnten. Aber darum ging es nicht. Wer als Letzter kam, musste sich hinten anstellen. So war das. So war das schon immer. Nicht nur im Arbeiter-und-Bauern-Staat. Er kannte die Spielregeln. Trotzdem startete er einen Versuch:
    «Ich habe die Universität in Moskau absolviert. Mit sehr gutem Abschluss. Davon habt ihr ja bis heute nicht allzu viele. Ich bin Journalist. Ich habe auch literarisch gearbeitet.»
    Lorenz überlegte, ob er etwas von dem Literaturpreis erwähnen sollte. Er ließ es, es schien ihm sinnlos, hier an dieser Stelle.
    «Wer weiß, was ohne diesen, na, nennen wir es ‹Abstecher in die Tundra› aus mir geworden wäre? Aber Schreiben ist nicht das Einzige, was ich kann. Ich habe das Bergbautechnikum oben im Norden abgeschlossen. Hier würde man dazu wohl Ingenieurstudium sagen. Mein Vater, ein Bergmann, übrigens seit Gründung Mitglied im Spartakusbund, hätte sich darüber gefreut. Sein Junge an der Universität …»
    Lorenz schaute Kaden triumphierend an. Der hatte mit Sicherheit keinen Universitätsabschluss und wälzte sich dennoch selbstgefällig im Sessel, seiner Bedeutung als «Mitarbeiter des ZK der SED» bewusst. Kein Zweifel, wenn solche Typen hier zu etwas kamen, dann war er spät dran.
    «Und dann bin ich ja noch Schlosser, und wenn ein Schmied gebraucht wird, bitte sehr, auch das. Zuletzt war ich Oberingenieur eines geologischen Trusts. Die haben Kohle und Öl in der Tundra gesucht. Auch Gold. Bei minus fünfzig Grad – weißt du, was das bedeutet? Eine Bohranlage ohne Ersatzteile zu reparieren, Hunderte Kilometer weit von der nächsten Straße? Das kann nicht jeder. Also, es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn sich da nicht etwas Passendes findet.»
    Für einen Augenblick hielt er inne. Hätte er das mit dem Oberingenieur sagen sollen oder doch lieber schweigen? Sie hatten ihm wenige Monate vor der Abreise gekündigt. Er war arbeitslos, stand nackt da, ohne Verdienst. Arbeitslos in einem Land, in dem es angeblich keine Arbeitslosen gab. Er hatte den Konflikt kommen sehen. Und doch wich er nicht aus, er konnte es einfach nicht. Sein Verstand sagte ihm: Was geht dich die Sache an? Ob die Buchhalterin nun eine saubere Bilanz hat oder nicht, dein Verdienst stimmt. Also halt den Mund.
    Aber nein, er folgte nicht seinem Verstand, sondern dem Anstand. Es konnte schließlich nicht sein, dass die draußen in der Tundra um das Nötigste bettelten und in der Zentrale alles doppelt und dreifach gebucht und verschoben wurde. Die Buchhalterin war schlau genug, nicht alles für sich zu behalten. Die gesamte Vertikale nach oben war geschmiert, natürlich, wie man in Russland sagt: direkt auf die Pfote. Jeden Monat eine runde Summe. Jeder in der goldenen Kette gab einen festen Betrag für die Chefs nach oben weiter. So waren alle zufrieden, die zu diesem System gehörten. Deshalb hielten die «Natschalniks» ihre schützende Hand über die findige Frau. Bis dieser Deutsche kam. Ein guter Fachmann war er ja. Aber dass er diese seltsame Art an sich hatte, kein Bakschisch nahm, auch anderen nichts gab, das verdarb alles.
    Auf einer Versammlung platzte Lorenz der Kragen. Wieder drucksten alle herum, wieso die Verpflegung für die Geologen so beschissen sein konnte. Da stand er auf und sagte, was auch andere wussten. Der Staatsanwalt schaltete sich ein. Die Frau musste packen. Wenige Tage später auch er.
    «Lorenz Lorenzowitsch, das haben Sie nun davon. Warum mussten Sie dem Teufel auf die Hörner kriechen? Jetzt kann Ihnen hier niemand mehr helfen.»
    Mehr an Erklärung gab es von Ogijenko, dem Chef, nicht, nur sein schmieriges Grinsen. Wieder einmal stand er vor dem Nichts. Allein das Papier mit der Ausreiseerlaubnis gab ihm Hoffnung. Bis zum November mussten sie aus dem Land sein. Letztlich galt es, ein halbes Jahr bis zur Abreise zu überbrücken. Doch Lena wollte sich mit dem Gedanken noch immer nicht abfinden. Weggehen, neu anfangen, in einem Land, dessen Sprache sie nicht beherrschte und das einem nach diesem Krieg nur unheimlich und abstoßend vorkam? Sie hatten vom Ersparten – 25   000 Rubel, viel Geld – gerade ein Häuschen auf der Krim gekauft. Nicht groß, aber nicht weit vom

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