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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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nächsten, ohne Resultat. Einmal glaubte der Untersuchungsführer, einen fetten Agenten an der Angel zu haben, denn irgendwie war es ihm gelungen, herauszukriegen, dass Lorenz’ Mutter daheim im faschistischen Deutschland eine Rente bezog. Doch der Emigrant konnte dem Geheimdienstler, der in seinem Leben nicht über das Saratower Gebiet hinausgekommen war, klarmachen, dass Witwenrenten keine Erfindung der Nazis waren, sondern die deutsche Arbeiterklasse dafür gekämpft hatte. Sein Vater, ein Bergmann, starb an Staublunge. Daher die Rente.
    Dann hieß es wieder, Lorenz sei als Linksradikaler überführt, er habe dem individuellen Terror – von Stalin und der Komintern als Todsünde gegeißelt – nie abgeschworen. Als Beweis musste die Schießerei mit SA-Leuten im Ruhrgebiet herhalten, bei der es Verletzte und wohl auch Tote gab. Das fanden die Ermittler offensichtlich in den Universitätsunterlagen des Studenten. Doch die KPD hatte die Aktion seinerzeit gebilligt. So lief auch dieser Vorwurf ins Leere. Der nächste lautete: illegaler Grenzübertritt. Lorenz schaute Hofer entgeistert an. Hatte der nicht mehr alle Tassen im Schrank?
    Doch da lag plötzlich ein deutscher Pass auf dem Tisch. Sein Pass. Lorenz hatte ihn Jahre nicht gesehen. Zu Beginn seines Studiums nahm man ihm die Papiere ab, wie allen Studenten. Jetzt schob Hofer das Beweisstück zu ihm herüber. Als Lorenz durch den Pass blätterte, konnte er sich nur wundern. Jede Seite zierten bunte Stempel aller Größen und Formen: China, Japan, Frankreich, Italien, selbst Australien hatte das gute Stück gesehen. Nun war auch Lorenz klar, warum alle Nachfragen nach dem Pass immer wieder im Sande verlaufen waren. Irgendwer musste damit in der Welt unterwegs gewesen sein. In wessen Auftrag, konnte er nur ahnen.
    Hofers siegessicherer Blick erlosch, als Lorenz ihm mehrere Eintragungen zeigte, die aus der Zeit stammten, in der er nachweislich in Engels an der Wolga arbeitete. Dass er zur gleichen Zeit in Hongkong spazieren ging, schien selbst dem Vernehmer unwahrscheinlich.
    Das stumpfsinnige Frage-Antwort-Spiel zermürbte Hofer fast so wie den Gefangenen, aus dem fordernden Ton wurde ein flehender:
    «Genosse Lorenz Lorenzowitsch, Sie müssen sich bekennen. Es geht nicht anders. Jeder muss sich bekennen.»
    Die Anrede «Genosse» klang in diesem Keller wie Hohn.
    «Wenn es aber nichts zu bekennen gibt?»
    «Aber jeder muss sich bekennen. Es kann schon sein, dass Sie persönlich nichts verbrochen haben. Doch wir alle sind ja Teil eines großen Ganzen. Wir säubern die Gesellschaft. Es ist ein Akt der politischen Hygiene! Und natürlich wäscht man sich die Hände nicht nur, wenn sie schmutzig sind.»
    Hofers philosophische Betrachtungen waren zum Kotzen. Lorenz’ Mitinsassen, von denen ein Großteil bereits zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt war, fanden die Schilderungen der Verhöre dagegen fast schon unterhaltsam.
    Doch plötzlich war Schluss mit den Debatten, Lorenz wurde in die Mangel genommen. Vier Tage Schlafentzug. Er saß ununterbrochen auf dem Stuhl in grellem Lampenlicht, und wenn er umzukippen drohte, wurde er mit Riemen an der Lehne festgeschnallt. Die Geheimdienstler lösten sich alle paar Stunden ab. Das Personal solcher Verhöre hieß bei den Gefangenen «Wecker». Sie waren nicht darauf getrimmt, etwas aus den Angeklagten herauszukriegen. Es ging allein darum, den Gefangenen wach zu halten und dadurch gefügig zu machen. Jeder Zentimeter von Lorenz’ Körper schmerzte, der Kopf wog zwei Zentner. Immer, wenn er abzuknicken drohte, packte ihn einer der Wecker an den Haaren und zog ihn hoch. Schloss er die Augen, bekam er einen Klatsch Wasser ins Gesicht, und wenn das nichts half, weil er einfach die Augen nicht mehr öffnete, wurde er so lange geschüttelt, bis er sie wieder aufmachte. Wie bei einem Sturzbetrunkenen drehte sich alles um ihn herum. Irgendwann konnte er nicht mehr. Er wollte nur noch schlafen, egal, was passierte. Schlafen. Sterben. Alles war besser als diese Quälerei.
    Genau in diesem Moment ging die Eisentür auf, und Schrottkin stürmte in den Raum. Von nun an übernahm er wieder das Kommando. Ausgeruht, glatt rasiert bis aufs dünne Bärtchen und süßlich duftend, setzte er zum finalen Kampf an. Seine neuste Anschuldigung hieß: Agitation für den Imperialismus.
    «Wann soll das gewesen sein?», flüsterte Lorenz erschöpft in Hofers Richtung, während er langsam in sich zusammensank. «Warum hören Sie nicht auf mit der

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