Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
herausgerissen hatte, und eine belanglose Postkarte. Der Apparat hinterließ keine Spuren. Was auf den Fluren des Machtzentrums in Ostberlin gedacht oder gesprochen wurde, wer einen Aufstieg beförderte, wer ihn zu verhindern suchte, keine noch so geringe Notiz aus einem Gespräch ließ auf Hintergründe, auf Absichten schließen. Eine fast sterile Parallelwelt.
Ob die Staatssicherheit Order hatte, sich fernzuhalten, die Partei ihren inneren Kreis abschirmte oder frühe Eintragungen irgendwann gesäubert wurden, lässt sich anhand des vorliegenden Materials nicht sagen. Seltsam bleibt es in jedem Fall, denn dass die Stasi im Büromaschinenwerk Sömmerda ständig am Sammeln und Wühlen war und der Werkleiter davon nicht verschont blieb, dafür gibt es ausreichend Belege.
Dennoch, zwei Eintragungen aus den letzten Jahren in Bad Liebenstein machen eine Ausnahme. Das «Hager»-Dossier 1987 und die «Weber»-Sache 1989, angelegt einen Tag vor dem Tod meines Vaters, am 14. September 1989. Beide Vorgänge erscheinen aus heutiger Sicht allenfalls surreal, Nachrichten aus einer Welt, die man selbst als Zeuge der Ereignisse kaum noch zu verstehen vermag. Wie krank musste eine Gesellschaft sein, wenn sie selbst «den Eigenen» bis über den Tod hinaus nicht traute?
Die Geschichten sind schnell erzählt. Eines Tages hat ein älterer Herr, er schreibt noch Sütterlin, die Nase voll von dem dummen Geschwätz im Politbüro und schickt dem für Ideologie- und Kulturfragen zuständigen Kurt Hager einen Brief. Der Inhalt lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Der geschätzte Genosse Prof. Hager habe keine blasse Ahnung von Marx. Was überall in der Welt als belanglos abgetan würde, wächst sich in der bleiernen DDR-Endzeit zur Gotteslästerung aus. Ein halbes Dutzend Stasi-Offiziere nimmt Witterung auf und glaubt sich bald einer großen Sache auf der Spur. Denn Name und Adresse des Absenders sind fingiert. Sie gehören dem verstorbenen Besitzer einer privaten Autowerkstatt, der sich mit theoretischen Fragen des Marxismus nie, sondern immer nur mit dem praktischen Nutzen der real existierenden Mangelwirtschaft befasste. Der federführende Major Ebert der Bad Salzunger Dienststelle des MfS fertigt in kürzester Frist ein Täterprofil an:
«Bei dem Schreiber des Briefs muss es sich um einen kampferfahrenen, studierten Genossen handeln, welcher über 60 Jahre ist. Nach den vorliegenden Erkenntnissen ist dieser Brief dem Genossen Lochthofen zuzuordnen. Er wird als schwieriger Mensch eingeschätzt.»
Was folgt, ist eine aufwendige Schriftanalyse, an deren Ende feststeht, dass Lorenz Lochthofen den Brief nicht geschrieben hat. Doch Major Ebert gibt sich so leicht nicht geschlagen. Eines weiß er genau: Der Klassenfeind ist ein Meister im Verstellen. Wenn die Schriftprobe nicht weiterhilft, die Spucke hilft bestimmt. Jemand muss den Briefumschlag ja zugeklebt haben. Es dauert Wochen, dann die eindeutige Antwort aus dem Speziallabor: Bei dem Gesuchten muss es sich um eine «männliche Person mit der Blutgruppe A» handeln. Da man diesen Lochthofen für eine Gegenprobe nicht einfach anzapfen kann, werden Stasi-Zuträger in weißen Kitteln bemüht. Der eine weiß, wann der Verdächtige zuletzt operiert wurde, der andere besorgt heimlich aus der Klinik in Bad Berka die Angaben über die Blutgruppe. Sieben Monate nachdem die Geschichte im Hager-Büro in Berlin ihren Anfang genommen hat, steht fest: Blutgruppe 0 Rhesusfaktor negativ. Lorenz Lochthofen ist definitiv nicht der Autor des Briefes.
Ein kleines Detail gibt Auskunft über die innere Verfasstheit des Geheimdienstes: Der Stasi-Major versäumt in seinem Bericht nicht zu erwähnen, dass nach seinen Ermittlungen der Verdächtige «früher Mitglied des ZK der KPdSU, etwa in der Zeit von 1940 bis 1946» gewesen sei.
Das Lager mit dem Kreml zu verwechseln, das hätte meinen Vater köstlich amüsiert.
Weniger unterhaltsam ist die letzte Notiz in seiner Stasi-Akte. Hier schließt sich der Kreis: Was der NKWD vor 52 Jahren begonnen hatte, sucht das MfS zu vollenden. Ein Stasi-Mitarbeiter der für Aufdeckung von Nazi- und Kriegsverbrechen zuständigen Abteilung löst vier Tage nach dem Tod meines Vaters einen «streng geheimen» Suchauftrag aus, mit der Absicht nachzuweisen, dass Lorenz Lochthofen nicht Lorenz Lochthofen war. Vielleicht ein Agent der internationalen Bourgeoisie, ein Spion, ein Saboteur? Auf der Suche nach Beweisen werden neben den üblichen Stasi-Quellen auch
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