Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
starrte gegen die Decke. Beim Schnarchen der Zellengenossen ging er die Geschichten des kommenden Tages durch. Drei oder vier Stunden spontan mit Spannung zu füllen, das schaffte er nur in den ersten Tagen. Die Rolle als Hoferzähler musste mit Verstand bewältigt werden. Nie hätte er geglaubt, ein Talent zu besitzen, das ihn vor den Gemeinheiten der Kriminellen bewahrte, sie rührten ihn nicht an, sie wollten seine Geschichten hören, vielleicht rettete ihm das sein Leben.
Das Gefängnis in Saratow blieb eine Episode. Es gab nur einen ernsthaften Versuch, ihm noch einmal etwas anzuhängen. Spionage lautete erneut der Vorwurf. Lorenz schüttelte bei dem Verhör nur ungläubig den Kopf. Spionage heiße ja wohl, er habe jemandem etwas verraten. Wann und wo solle das bitte gewesen sein, und vor allem, was sollte er verraten haben? Nach einem langen Hin und Her rückte der Vernehmungsoffizier endlich heraus:
«Sie haben sich mehrfach konspirativ mit Bürgern aus dem faschistischen Deutschland getroffen. Oder etwa nicht?»
«Ich? Wann?»
«In Moskau, als Student. Erst außerhalb der Stadt, später im Zentrum. Worüber wurde bei den Treffen gesprochen? Welche Aufträge haben Sie erhalten?»
«Geheime Treffen?»
Lorenz machte ein verdutztes Gesicht. Er musste es nicht einmal spielen. Fieberhaft suchte er nach einer Erklärung, konnte aber nichts finden. Fast hatte er sich schon an all die absurden Anschuldigungen gewöhnt. Nun also doch Spionage? Er? Natürlich wusste er, dass die Deutschen für jeden wachsamen Sowjetbürger potenzielle Verräter waren. Aber er hatte schon gegen die Nazis gekämpft, da waren die noch nicht einmal an der Macht. Dafür gab es Zeugen. Karl zum Beispiel. Der war ja selbst … Hier dämmerte es ihm. Richtig, Karl. Karl Tuttas. Ein Jugendfreund. Der kam aus dem Untergrund in Deutschland zur Schulung nach Moskau. Eigentlich waren Kontakte zu Illegalen strengstens untersagt. Doch der Hinweis auf Karls Aufenthalt kam aus dem Büro der Rektorin der Universität. Man konnte ihn nur als Anregung verstehen. Lorenz setzte sich also noch am selben Abend in einen Vorortzug und ließ sich ganz von seinen Erinnerungen treiben. Endlich würde er mit jemand sprechen können, der ihm vom Leben daheim berichtete. Wie es der Mutter ging, was die Schwestern und der Bruder machten, wer von den Kumpels standhielt, wen die Nazis geschnappt hatten.
Sie trafen sich mehrmals, ehe Karl über Skandinavien wieder den Weg in den Untergrund nach Deutschland und damit in die Arme der Gestapo antrat. Lorenz hatte Heimweh. Er war fast beleidigt, dass sein alter Freund wieder nach Deutschland ging und er zurückblieb, um Marx und die Geschichte der Kommunistischen Partei Russlands zu studieren. Das fand er angesichts der Lage in der Heimat jetzt ziemlich sinnlos. Allerdings hatte das letzte Treffen mit Karl bei Lorenz für Ernüchterung gesorgt. Der Freund machte ihm deutlich, was er so in aller Konsequenz nicht zu denken gewagt hatte: Für ihn sollte es auf absehbare Zeit keine Rückkehr nach Deutschland geben.
«Du bist schon viel zu lange weg. Das Land hat sich verändert. Das lässt sich in keinem deiner Seminare lernen. Hitler ist nicht nur ein anderer Brüning oder Papen …»
«Das weiß ich nicht schlechter als du. Aber den Kommunismus bauen die hier auch ohne mich auf, das kannst du mir glauben. Die brauchen mich nicht unbedingt. Daheim fehlen ausgebildete Leute, die Widerstand leisten. Für einen, den sie einsperren, müssten eigentlich drei neue die Fahne hochhalten.»
«Das ist revolutionäre Romantik, geht aber an der Realität vorbei. Die Nazis haben sich auf Dauer eingerichtet. Und das Volk macht mit. Selbst wenn es Krieg gibt. Wir müssen einen langen Atem haben. Dann, wenn der Spuk eines Tages vorbei ist, werden Leute wie du gebraucht. Außerdem wissen die längst, dass du schon Jahre in der Sowjetunion bist. Jeder in der Siedlung weiß es. Ein Steckbrief genügt, und sie haben dich.»
«Und dich nicht?»
«Auch mich können sie kriegen. Jeden von uns. Aber ich bin ihnen schon ein paarmal entwischt. Außerdem erkennt mich in der Masse niemand. Ich sehe aus wie Dutzende andere. Das ist bei dir nicht so. Du bist viel zu auffällig. Schlag es dir aus dem Kopf.»
So stritten sie eine Weile, aber Lorenz’ Widerstand wurde immer schwächer. Karls Worte verletzten ihn. Der Freund sprach aus, was alle anderen offenbar schon längst wussten: Er war aussortiert. Für die illegale Arbeit nicht mehr
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