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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Wachpersonal und dessen Bräute daran ergötzten. Oder man starb, weil die korrupte Lagerleitung das wenige Essen, das für die Gefangenen bestimmt war, verschoben hatte. Man starb, weil die Kohlköpfe oder das Mehl im Winter unter freiem Himmel abgekippt wurden. Man starb, weil das Land trotz unermesslicher Weiten und fetter Böden unfähig war, genug Korn zu ernten. Wo selbst das Dorf hungerte, blieb für das Lager erst recht kein Brot.
    Den Hintergrund für die Vernichtung ganzer Völker durch die andere blutige Diktatur des zwanzigsten Jahrhunderts bildete eine fast rasputinsche Mischung aus menschenverachtender Mystik und ideologischer Frömmigkeit. Ein paranoider Diktator, ein durch Bürgerkrieg und Hunger ausgezehrtes Volk, eine patriarchalische Gesellschaft im Fortschrittstaumel und immer wieder Angst. Angst vor einem falschen Wort. Angst vor einem falschen Blick. Angst vor einem falschen Gedanken.
    Angststarre lähmte das Land.
    Angststarre hielt es zusammen.
    Der Einzelne war nichts. Das Kollektiv war alles. Wer sich in der Reihe nicht anstellte, und es gab immer einen Grund zum Anstellen, der wurde aussortiert. Menschewiki, Bolschewiki, Trotzkisten, Anarchisten, rechte Abweichler, linke Abweichler, Kommissare, Generäle, Popen, Bauern, Ärzte, Musikanten, Lehrer, Ingenieure, Traktoristen, Stenotypisten, alle, ausnahmslos alle, kamen dran. Selbst die Delegierten des «Parteitages der Sieger» von 1934. Mit Ausnahme Stalins und einer handverlesenen Gruppe seiner engsten Getreuen wurden alle erschossen. Die ohnehin ausgedünnte Elite der Partei musste sterben, weil der Diktator mit nur dreiviertel der Stimmen des Parteitages in seinem Amt bestätigt worden war. Dagegen hoben die Delegierten fast geschlossen für den neuen aufgehenden Stern am Polithimmel, Sergej Kirow, die Hand. Der fiel, welch Zufall, noch im selben Jahr einem Attentat zum Opfer, das wiederum Anlass für neue schreckliche rote Bartholomäusnächte bot.
    In Moskau ging es mit Lorenz ganz schnell. Raus aus dem Waggon, rein in den «Schwarzen Raben», ab nach Lefortowo, Treppe rauf, Treppe runter, Tür auf, Tür zu, zwei Wächter pressten ihn barfuß in den «Sarg». Da war er nun. Wie benommen. In einer schmalen, betonierten Zelle, höchstens einen halben Meter im Quadrat, in der man weder stehen noch sitzen und schon gar nicht liegen konnte. Der schräge Boden, glitschig und kalt, bot keinen Halt, ließ den Körper zusammensacken. Das eigene Gewicht folterte den Insassen. Eine Zeitlang versuchte Lorenz, sich mit Händen und Knien abzustützen, das brachte nur einen kurzen Moment Entlastung. Die Schmerzen wurden unerträglich. Irgendwann ließ er los.
    Eigentlich hatte er mit der Lubjanka gerechnet, dem berüchtigten Moskauer Hauptquartier des NKWD und seinem zentralen Gefängnis. Von hier aus zogen sich die unsichtbaren Fäden durch das Land, an deren Enden die Soldaten der Exekutionskommandos mit ihren Gewehren wie Marionetten hingen. Man brauchte nur an einer Schnur zu ziehen, schon konnte man in der Ferne die Schüsse und das Stöhnen der Sterbenden hören. Man zog an einer anderen, und die Menschen verschwanden spurlos. Als hätte es sie nie gegeben. Die Lubjanka war die Endstation für die meisten Widersacher Stalins, ob sie es nun bewusst waren oder nur dem manischen Misstrauen des Georgiers zum Opfer fielen. Bucharin, Sinowjew, Kamenew, Rykow oder Radek, es war die Elite des neuen Russland, die in den Kellern des gelben Backsteinkomplexes erst verhört, dann gefoltert, dann umgebracht wurde. Ohne diese Köpfe konnte das Land nur so werden, wie es wurde: auch ein Gefängnis. Wie die Lubjanka. Voller Angst. Voller Hass. Voller Verrat.
    In Lefortowo ging es nicht anders zu. Nur dass hier das Militär das Kommando führte. Warum Lorenz gerade hier landete, er konnte es sich nicht beantworten. Pjotr, der mit ihm im Eisenbahnwaggon auf dem Weg in den Norden den Salzheringen widerstand, sollte dafür eine einfache Erklärung finden. Die waren ausgebucht, meinte er lakonisch, das kommt in Hotels vor, warum also nicht in Gefängnissen. Und berühmt wie die Lubjanka nun mal ist, wollen alle dorthin …
    Lorenz kauerte unter unerträglichen Schmerzen auf dem schrägen Betonboden. Erst fühlte er seine Füße nicht mehr, dann wurden die Beine taub. Die Gedanken drangen nicht mehr durch den Schmerz; er meinte zu spüren, wie er langsam in einen anderen Zustand hinüberwechselte.
    Da hörte er wie ein fernes Echo die Eisentür scheppern.

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