Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
geeignet. Er saß in Russland fest.
Eher traurig als beleidigt schaute Lorenz auf den Boden, als gäbe es dort im zertretenen Schnee ein letztes Argument gegen die deprimierende Wahrheit. Er sah keinen Ausweg, aber Karls Schuhe und war entsetzt. Die schienen schon vom Anblicken auseinanderzufallen. Die Sohle hatte sich an mehreren Stellen vom Oberleder getrennt. Karl stand förmlich auf dem Eis. So konnte man selbst in Moskau nicht herumlaufen, erst recht nicht eine gefährliche Reise antreten. Er war froh, dem Gespräch eine Wendung zu geben:
«Mensch, Karl, so kannst du doch nicht in die Welt. Was sollen die Schweden denken? Gib die Galoschen her und nimm meine. Die sind noch wie neu. Und um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen, ich werde schon keine Bastschuhe anziehen.»
Karl wehrte ab:
«Das ist sicher ein guter Gedanke. Nur leider unmöglich.»
«Warum? Ich gebe dir die Schuhe wirklich gerne.»
«Glaubst du, ich hätte mir hier keine kaufen können? Das ist nicht das Problem. Aber Schuhe einer russischen Marke würden jedem Dummkopf auf einer Polizeiwache in Deutschland sagen: Da haste den Richtigen geschnappt. Ich kann mir erst in Schweden neue Treter zulegen. Früher nicht.»
Lorenz zog dessen ungeachtet breit grinsend einen Schuh aus und hielt ihn Karl hin:
«Denkst du, ich habe in Konspiration geschlafen? Die sind noch aus Deutschland und gut beisammen. Also nimm und mach keine Geschichten.»
Wenn nicht er selbst, so konnten wenigstens seine Schuhe die Heimreise antreten. Karl zog sie schnell an. Sie passten. Der Abschied wurde nicht ganz so traurig. Und dieser Karl sollte der Spion sein?
«Der Mann, von dem Sie hier sprechen, riskiert täglich, ganz im Gegensatz zu Ihnen, sein Leben im Kampf gegen den Faschismus. Und Sie verleumden ihn als Agenten.»
Lorenz sah den NKWD-Mann verächtlich an.
«Was sind Sie bloß für ein Kommunist!?»
Das mit dem Kommunisten war dick aufgetragen. Der Geheimdienstler und seine Kumpane waren allenfalls Parteimitglieder, mehr nicht. Koltschak, Denikin oder Wrangel, all die zaristischen Generäle, die mit ihren Armeen und frischem Geld aus Berlin oder Paris die Geschichte noch einmal hatten wenden wollen, galten als die gefährlichsten Gegner der Revolution. Welch kolossaler Irrtum! Die Konterrevolution nistete längst im Kreml und hatte bald das Land fest im Griff. Der sah sich Lorenz gegenüber.
Der Appell an das kommunistische Gewissen des Vernehmers verfehlte dennoch seine Wirkung nicht. Der Mann stellte keine weiteren Fragen. Wenige Tage später musste Lorenz die Zelle verlassen. Zurück blieb ein tieftrauriges Publikum.
Es ging auf Etappe. Erst mit dem Lastwagen zum Bahnhof, dann in einem vergitterten Eisenbahnwaggon nach Moskau. Der Wagen stammte aus Zarenzeiten, denn er hatte ein Fenster. Man konnte trotz dreckiger Scheiben und der Gitterstäbe die langsam vorbeiziehende Landschaft sehen. Einen zweiten solchen Waggon sollte er auf seinen Wegen durch Lager und Gefängnisse nicht mehr betreten.
Noch einmal schöpfte er Hoffnung. Dort in Moskau saßen all jene, von denen er glaubte, dass sie ein entscheidendes Wort für ihn einlegen konnten. Wenn es nur gelang, ihnen eine Nachricht zu übermitteln. Dann ließe sich vielleicht doch noch alles zum Guten wenden. Ein Brief an Friedrich Wolf, oder sollte er sich lieber gleich an Wilhelm Pieck wenden? Schon überlegte er, was er zu Geld machen könnte, um einen der Wärter zu bestechen. Flüchtig dachte er an den Briefschreiber im Gefängnis von Engels und wusste, es hatte keinen Sinn. Er war ausgeliefert.
Über das Land rollte unerbittlich die Terrorwelle der «Großen Säuberung». Unzählige Menschen fielen der «Tschistka» zum Opfer. Weit über zwei Millionen in wenigen Jahren. Die genaue Zahl wird sich wohl nie ermitteln lassen. Im Gegensatz zu der perfekt organisierten Todesindustrie der Deutschen, bei der jedes Opfer akribisch in den Akten vermerkt wurde, die Bestellungen von Zyklon B auf die Transportkapazität der Bahn und die Umfänge der Verbrennungsöfen abgestimmt sein mussten, war der sowjetische Tod eine typisch schlampig-russische Angelegenheit. Freunde wie Feinde – Letztere selten – konnten ebenso zufällig erschossen werden wie überleben. Konnten in den Lagern durch die harte Arbeit oder an Typhus sterben, aber auch durch eine Laune des Schicksals in eine Kulturbrigade geraten und bis zur Entlassung auf den Brettern, die das Leben bedeuteten, tanzen, auf dass sich das
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