Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
schon, wie sind Sie in die Todeszelle geraten? Wer hat Ihnen dabei geholfen? War’s wegen der Verpflegung? Weißbrot, Butter, Wurst, alles gratis. Wo gibt’s sonst noch so was? Ist besser als bei vielen draußen. Sie sehen ja aus wie eine Mastgans.»
«Genosse Major», Lorenz zog es vor, nicht weiter abzuwarten, «Sie werden wissen, in einem Gefängnis kann man sich nicht aussuchen, wohin einen die Wachen stecken. Ich habe mich nicht freiwillig für die Todeszelle gemeldet.»
«Richtig, richtig. Da wären Sie ja auch der Erste. Da ist anscheinend ein kleiner Fehler unterlaufen.»
Er hielt einen Moment inne, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten.
«Da haben wir ja alle noch mal Glück gehabt. So etwas ist schnell passiert. Und schon grüßt man von oben. Was? Ha, ha. Aber wie Sie wissen, in unserem Land herrschen Recht und Ordnung. Darauf können Sie sich verlassen.»
Er hörte schlagartig auf zu grinsen. Patschte mit seinen Fingern auf die Schreibtischplatte und schaute Lorenz an.
«Also, ab sofort ist Schluss mit Fettlebe. Die Sowjetmenschen können es sich nicht leisten, Feinde des Volkes wie Sie auch noch zu mästen. Schließlich sind Sie hier nicht zur Kur. Führt ihn ab.»
Lorenz folgte den Soldaten, die ihn auf den Hof brachten. Dort hielt er einen Moment inne. Seit Wochen war er das erste Mal wieder an der Luft. Im Licht der Scheinwerfer glitzerten die Kristalle frischgefallenen Schnees. Kalt, weiß und unschuldig. Die abgeschabten Wände des Häuserkarrees, in denen die schwarzen Nischen der halbrunden Zellenfenster nisteten, rückten in den Hintergrund. Plötzlich schienen sie klein und unbedeutend. Es waren nur ein paar Schritte zu gehen. Quer von einer Tür zur anderen. Aber erst hier begriff Lorenz:
Er lebte noch.
Was immer das zu bedeuten hatte: Es war noch nicht das Ende.
II
Erst ein, dann zwei, dann ein letzter Schlag mit dem Hammer auf den verklemmten Riegel. Die Schiebetür sprang mit Getöse auf. Durch einen armbreiten Spalt blickte ein von Wolken zerrissener Abendhimmel in das Innere des Viehwaggons. Jemand schob einige schwere Blecheimer über die Bretter. Ein dumpfes Grunzen und Gerangel hob an, ganz so, als sei im Dunkel des Wagens ein wildes Tier erwacht. Lorenz fuhr der scharfe Geruch von Fisch in die Nase. Er spürte den unbändigen Wunsch, aufzuspringen und sich mit ein paar kräftigen Fußtritten den Weg zu den Salzheringen frei zu kämpfen.
Seit vierundzwanzig Stunden waren sie unterwegs. Seit vierundzwanzig Stunden gab es nichts. Kein Brot. Keine Grütze. Keine Balanda. Nichts. Und doch blieb er sitzen. Auch wenn sich der Geruch des Fischs ins Unerträgliche steigerte. Er durfte jetzt, gerade jetzt, nicht nachgeben.
Lorenz hörte sie schmatzen. Wie sie mit den Zähnen die Fische in Stücke rissen, wie die Eimer unter dem Andrang der Hungrigen auf dem Holzboden hin und her kratzten. Wie sich der eine rühmte, drei Heringe erwischt zu haben, und ein anderer, der zu kurz gekommen war, ihn dafür verfluchte. Ein kleiner Bursche, mit seinen sechzehn Jahren wohl der Jüngste unter den Gefangenen, saß mit dem Rücken an die Wand gelehnt und lutschte zärtlich am Rest eines Heringsschwanzes. Sehen konnte man im Dämmerlicht des Waggons nicht viel, aber man hörte seinen Genuss. Lorenz hätte den Jungen gerne zurückgehalten, doch das hatte keinen Sinn. Nur Pjotr und er blieben auf ihren Plätzen.
Sein Magen rebellierte, den ganzen Körper zog es zu den inzwischen leeren Eimern mit den Resten der Heringsbrühe. Aber nein. Sie widerstanden. Pjotr hatte ihn vor den Heringen gewarnt. Es gehörte zum grausamen Spiel der Wachen, den Gefangenen salzigen Fisch, aber kein Wasser zu geben. Der Qual des Hungers folgte die weit schlimmere Qual des Durstes. Während der Zug ohne Anhalten rollte und rollte.
Pjotr kannte all ihre sadistischen Spiele. Er war ein erfahrener «Etapnik», wie jene hießen, die nicht zum ersten Mal auf einen solchen Transport gingen. Fünf Jahre hatte er schon abgesessen, weil er ein Kulak, ein Großbauer, war. Er hatte die Solowki-Inseln im Weißen Meer überlebt, wo sich die Frau des Lagerkommandanten einen Spaß daraus machte, auf davonlaufende Sträflinge zu schießen.
«Mit den Jahren traf sie immer besser», witzelte Pjotr.
Irgendwie war er durchgekommen. Nun hatten sie ihn ein zweites Mal geschnappt und ihm in einem Schnellverfahren fünf weitere Jahre verpasst. In alle Winkel des Landes flatterte im Jahr 1938 der Ukas 00447 der NKWD-Zentrale «Über die
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