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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente». Der darauf einsetzenden Terrorwelle unter der Landbevölkerung fiel fast eine Million Bauern zum Opfer. Doch nicht allein die Bauern waren der Willkür ausgesetzt. Der NKWD-Befehl 00439 «Über die Repression deutscher Staatsangehöriger, die der Spionage gegen die UdSSR verdächtigt werden» erklärte jeden, der auch nur das Geringste mit Deutschland zu tun hatte, für vogelfrei. Wer nicht sofort erschossen wurde, konnte sich als Lotteriegewinner fühlen und im Lager auf ein Leben danach hoffen. Zehntausende hatten dieses Glück nicht. Was der Einzelne getan hatte, spielte keine Rolle. Eine Möglichkeit, sich zu verteidigen, gab es nicht. Wie den Deutschen erging es Polen, Juden, Tataren, Chinesen, Koreanern, Angehörigen der kaukasischen Völker. Menschen, wahllos verhaftet, eingesperrt und gequält. Die Waggons in die Straflager waren brechend voll.
    Irgendwo, weit vorn, hörte man das heisere Pfeifen der Lokomotive. Die Eisenpuffer schlugen aufeinander, der Waggon ruckte, ruckte nochmals, als würde er aus einem tiefen Schlaf gerissen, und setzte sich träge in Bewegung. Sofort erfüllte wieder das gleichförmige Tuk-Tuk, Tuk-Tuk der Räder den Wagen, die über die nachlässig verschraubten Schienenstöße rollten. Erst langsam, dann schneller und noch schneller. Tuk-Tuk, Tuk-Tuk, es ging immer weiter in den Norden, jenem dunklen Ort entgegen, den die Alten des sowjetischen Lager-Universums nur ehrfürchtig und die Neuen mit Schaudern flüsterten: Workuta.
    Pjotr hatte den Stummel einer Papirossa aus der Tasche seiner Wattejacke gekramt, zündete ihn mit einem abgebrochenen Streichholz an, nahm zwei tiefe Züge und reichte den Rest Lorenz:
    «Hier, das Einzige, was gegen Hunger hilft.» So saßen sie und schwiegen.
    Wieder und wieder ließ Lorenz in Gedanken die Ereignisse der letzten Monate vorüberziehen. Immer in der Hoffnung, den Punkt zu finden, an dem etwas falschgelaufen war. Wo es vielleicht noch eine Chance gegeben hätte, aus diesem albtraumartigen Lauf der Dinge auszubrechen, wenn er nur aufgepasst hätte. Aber sosehr er sich mühte, er fand nichts. Diesen Punkt gab es nicht. Sein Schicksal war nichts Besonderes. Wahrscheinlich hatte er sogar noch Glück. Viel Glück. Sie hätten ihn auch sofort nach der Festnahme in Engels an die Wand stellen können. Oder später, als er sich sperrig zeigte im Verhör. Einer mehr, einer weniger, was zählte das. Vielleicht wollten sie ihn ja nur noch etwas quälen und hatten seinen Tod längst beschlossen. Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er es mit Verbrechern zu tun hatte, die sich daran ergötzten, einen Mann in die Todeszelle zu sperren.
    Danach steckten sie ihn in ein überfülltes Kellerloch mit lauter Urki. Da er als Letzter in die Zelle kam, blieb ihm nur der Liegeplatz auf dem Boden neben der Jauche. Das ungeschriebene Gesetz kannte er, die Karriere eines Häftlings beginnt am Scheißkübel. Wenn es gutging, arbeitete man sich vom Schlafplatz auf dem Steinboden bis auf eine der Holzpritschen hoch. Das dauerte. Er hatte sich gerade erschöpft an die Wand gelehnt, da hörte er:
    «He, du, hier wird nicht gepennt. Erst wollen wir wissen, wer du bist und woher du kommst.»
    Lorenz öffnete unwillig die Augen. Die Stimme gehörte einem großen Kerl, seine Arme zeigten von oben bis unten blaue Arabesken nachlässig gestochener Tätowierungen. Er schien der Ataman in der Zelle zu sein. Die Schpana saß im Halbkreis auf Schemeln um ihn herum. Sie alle schauten jetzt interessiert auf den Neuen. Wohl in Erwartung einer lohnenden Belustigung.
    Der Ataman schob grinsend den Hocker, auf dem gerade noch sein rechtes Bein lag, ein Stück von sich und lud den Neuankömmling ein, Platz zu nehmen. Lorenz schien es ratsam, der Aufforderung zu folgen. Irgendwie musste man sich mit den Typen arrangieren. Wie viele Tage, wie viele Wochen er in ihrer Gesellschaft verbringen sollte, konnte er nicht wissen. Er zwängte sich zwischen den Häftlingen hindurch. Doch als er sich setzen wollte, zog ein schmieriges Männlein den Hocker blitzartig beiseite. Lorenz gönnte dem Publikum den Spaß nicht, er fing sich ab und verharrte in gebückter Stellung. Der Oberganove lachte trotzdem und verpasste seiner Hofschranze eine kräftige Kopfnuss.
    «Erzähl schon, wo kommst du her?»
    Die Geschichte eines neuen Arrestanten war oft genug die einzige Abwechslung, die das Leben in der Zelle bot.
    Lorenz

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