Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Plötzlich war sie offen, er schlug, ohne sich auch nur ein wenig abfangen zu können, mit dem Kopf auf den Steinboden des Gangs. So lag er, lag zwischen den Kommissstiefeln von zwei Wachmännern, die ihn abholen sollten. Eilig hatten sie es nicht. Der eine kramte eine Schachtel Papirossy aus der Tasche, bot dem anderen eine an. Sie rauchten, die Asche auf den Kopf des Gefangenen abschüttelnd.
«Schau an, der Hund ist fast verreckt.»
«Offensichtlich ein Intelligentik», erwiderte sein Begleiter, der Stimme nach um einiges älter. «So schwächlich, wie der aussieht. Ich weiß gar nicht, warum sie diese Typen so weit durchs Land karren. Das kostet doch nur Geld. Und wir haben hier die Scherereien. Dagegen braucht’s für eine Bleikugel nur Kopeken. Neulich ist einer von denen zum Teufel gegangen. Eine elende Schinderei, bis wir den auf dem Hof hatten.»
«Recht hast du. Was braucht das Volk so viele von denen? Und immer sind sie unzufrieden. Laufen in feinen Schühchen rum, wissen nicht mal, wie ein Fußlappen gewickelt wird, aber konspirieren. In Moskau wimmelt es nur so von denen.»
«Und da haben wir schon Tausende rausgefischt. Aber sie wachsen nach, wie Pilze im Regen. Du weißt ja, auf einen guten, sagen wir mal, auf den Steinpilz, kommen Dutzende giftige. So ist das auch mit diesen Intelligenzlern. He, steh auf, wird’s bald! Ausschlafen kannst du dich auf Etappe.»
Sie packten den benommenen Gefangenen an den Armen und zerrten ihn in die Höhe. Die Beine konnten den Körper nicht tragen. So taumelte Lorenz zwischen den Aufsehern wie eine gliederlose Puppe, versuchte verzweifelt, einen Halt zu finden. Sie schleiften ihn ein Stück mit, bis sie ihn irgendwo auf dem langen Gang an die Wand lehnten.
«Bah», meinte der Jüngere fröhlich, «der ist ja ein richtiger Olympionike. Der von gestern konnte an der Stelle hier noch lange nicht stehen. Den hab ich mit Wasja sogar die Treppen raufschleppen müssen. Ich sage dir, das war ein schwerer Sack.»
Noch einmal zündeten sie sich ihre Papirossy an, bliesen den Qualm genussvoll dem Gefangenen ins Gesicht und überlegten, wo sie einen trinken gehen könnten. Der Ältere von den beiden nahm noch einen Zug, dann schob er Lorenz die Kippe in den Mund:
«Hier hast du, wer weiß schon, ob du noch einmal dazu kommst, eine zu rauchen.»
Lorenz musste all seinen Willen zusammennehmen, um nicht an dem Stummel zu ziehen. Sein Innerstes streckte sich sehnsüchtig nach oben, wo zwischen den Zähnen die speichelnasse Papphülse der Papirossa steckte. Doch er biss auf das Papier und spuckte den Zigarettenrest auf den Boden.
«Nichtraucher», flüsterte er.
Manchmal in diesen Tagen fehlte ihm das Rauchen mehr als das Essen. Es kostete ihn ungeheure Kraft, nicht um Zigaretten bei den Wachen zu betteln oder deren Stummel aufzuheben.
«Schau dir das an. Wenn sie so einen abknallen, ist es wirklich nicht schade. Du zeigst dein großes Herz, und was macht der Intelligentik, er rotzt hier einfach hin.»
Der Jüngere stieß Lorenz in die Seite.
«Dawaj, dawaj!»
Die Zehen schienen abgestorben, die Füße schmerzten unerträglich. Er schlurfte erst einen, dann einen weiteren Schritt. Die Wachleute folgten ihm. Lorenz versuchte, die neue Lage zu verstehen. Die Gespräche der beiden gaben nicht viel her. Doch eines schien sicher: Erschießen wollten sie ihn nicht. Nicht hier. Noch nicht.
Der Abschied von Lefortowo fiel genauso schnell aus wie die Begrüßung. Es war kein voller Tag, den er in dem Moskauer Gefängnis zubrachte. Keine Einweisung, kein Verhör, nur die Stunden im «Sarg». Richtig zu sich kam er erst im Waggon, als der Zug Fahrt aufgenommen hatte und die Plätze auf dem Boden verteilt waren. Pjotr, der in einem deutlich besseren Zustand auf diese Reise ging, hatte ihn zu sich gezogen und an die Wand gedrückt. Dies sollte bis zur Endstation am Petschora-Fluß sein Platz bleiben.
Moskau war eine weitere der vielen absurden Stationen seit seiner Verhaftung. Warum der «Sarg»? Warum die schnelle Ausweisung? Fragen, auf die weder er noch jemand anderes eine Antwort wusste. Viel später, in der Arktis, versuchte er mit Hilfe einiger alter Bolschewiki das Ganze zu verstehen. Sie hatten ihr halbes Leben in Gefängnissen und Lagern zugebracht, davon auch einige Jahre unter dem Zaren. Einer der Männer schien eine plausible Erklärung zu haben. Parallel zu Lorenz’ Einlieferung in Lefortowo wurde in Moskau gerade ein Schlag gegen die Spitze der Komintern
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