Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
schwieg lange, er hatte Angst. Sie hatten ihn nicht erschossen, würden sie ihn hier erschlagen, erwürgen, in der Jauche ersäufen? Tonlos kam die Antwort:
«Aus der Todeszelle.»
Der Ganovenboss hörte auf zu grinsen. Er pfiff anerkennend und schaute den Neuen abschätzend von oben bis unten an, als wollte er sich vergewissern, dass der ihm keine Märchen auftischte. Aber das würde keiner wagen und dieser dürre Kerl schon gar nicht.
«Aus der Todeszelle …», wiederholte er langsam.
Unerwartete Stille breitete sich aus. Der Ataman machte eine heftige Bewegung und trat einen Schlafenden von der Pritsche.
«Du kannst deine Sachen dahin legen. Der Platz gehört dir. Wer aus der Todeszelle kommt, hat unser aller Hochachtung. Und jetzt erzähl, was ist passiert, und wie bis du da rausgekommen? Ich kenne niemanden, der das vor dir geschafft hat.»
Lorenz nahm seinen Koffer, schob ihn unter die Pritsche, setzte sich auf den Hocker und begann seine Geschichte. Aus den Augenwinkeln beobachtete er den Mann, der soeben von der Liege vertrieben worden war. Ganz sicher sann der auf Rache.
Mit üppigen Ausschmückungen erzählte Lorenz von der Flucht aus Deutschland, der Arbeit im Donbass, dem Studium in Moskau, der Verhaftung in Engels. Am Ende stand für den Ataman fest, mit seiner noblen Geste hatte er dem richtigen Mann einen Liegeplatz zugeteilt.
«Sie haben dich in die Todeszelle gesteckt, um dich kleinzukriegen. Diese Huren! Aber sag, wenn du aus Deutschland bist, wie ist das Leben dort? Erzähl uns was …»
Lorenz ließ sich nicht lange bitten. Was konnte diese Männer beeindrucken? Natürlich ein paar spektakuläre Mordfälle, die er noch von daheim aus den Zeitungen kannte, Details über das süße Leben der Reichen und natürlich Frauengeschichten – je unwahrscheinlicher, desto besser. Diebe, Einbrecher, Mörder … sie saßen wie die Kinder auf dem Schoß der Großmutter und hörten zu.
Als am Abend die Tür aufging und sich die Männer mit ihren Näpfen zur Suppe drängten, knurrte der Ataman:
«Halt, ihr Drecksäcke! Erst kriegt der Erzähler! Der hat gearbeitet. Ihr habt gegafft. Nicht das Dünne von oben, sondern gib ihm das Dicke von unten! Ordentlich! Dann könnt ihr.»
Und so ging es am kommenden Tag und am Tag darauf. Lorenz’ wenig geschliffenes Russisch schreckte die Hörer keineswegs, sondern machte die Erzählungen erst richtig glaubhaft. In aller Ausführlichkeit berichtete er über die Gebräuche beim Essen in Deutschland, das Biertrinken in den Kneipen, wie es auf der Reeperbahn in Hamburg zuging und was man auf der Walz alles so erleben konnte. Allein mehrere Stunden füllten die Lieblingsgerichte der Deutschen. Deftiges deutsches Essen – schon glaubten die Häftlinge, den Geschmack von Schweinebraten auf der Zunge zu spüren. Der Ataman interessierte sich besonders für Eisbein. Immer wieder wollte er hören, was so ein Stück wog, wie es zubereitet wurde, wie dick die Kruste war. Und dann hatte er noch eine ganz spezielle Frage: Er wollte wissen, ob in Deutschland wirklich das Furzen bei Tisch erlaubt sei. Und auch im Beisein von Frauen. Aus verlässlicher Quelle habe er das gehört. Auch dass es sehr gesund sei, den «Arschwinden» freien Lauf zu lassen.
Es schlossen sich etliche Geschichten über das Furzen an, bis Lorenz endlich das Thema «Essen» verlassen konnte und zur «Klassik» überging: Winnetou. Und was als Versuchsballon gedacht war, erwies sich als Volltreffer. Dem Publikum gefielen auch Indianergeschichten, und da Karl May, im Gegensatz zu französischen oder englischen Schriftstellern, bei den Russen so gut wie unbekannt war, ließen sich mit ihm ganze Tage verbringen. Alle Winnetou-Teile, die Abenteuer von Kara Ben Nemsi – die Männer unterhielten sich glänzend. Da, wo Lorenz die Einzelheiten nicht mehr parat hatte, erfand er Neues oder mischte mit Lederstrumpf und Jack London.
Noch besser kamen die Rückgriffe auf das Decamerone an. Boccaccios amouröse Geschichten vermochten jeden Hänger in der Handlung der anderen Autoren auszubügeln. Ach, was war er ihm und dem Schöpfer von «Tausendundeiner Nacht» dankbar! Der Mescalero-Häuptling ritt nicht nur mit Old Shatterhand durch die Prärie, sondern auch mit Peronella auf dem Fass. Der weiße Bruder schnippte den Pflaumenkern zielsicherer als Kin Pin Meh, und die Ganoven wischten sich vor Lachen die Tränen vom Gesicht.
Jeden Abend, wenn das Licht gelöscht wurde, lag Lorenz auf seiner Pritsche und
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