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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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ein Ausländer unter den Sträflingen als Erstes zu hassen lernte.
    «Dawaj, dawaj!», hieß es, wenn die Kolonne am Morgen bei klirrendem Frost zum Schneeschaufeln ausrückte.
    «Dawaj, dawaj!», raunte es, wenn einer entkräftet zusammenbrach und die Wachen ihn mit den Stiefeln traten.
    «Dawaj, dawaj!», schrie der Offizier, wenn die Gefangenen nach einem Vierzehn-Stunden-Arbeitstag durch das Lagertor wankten.
    Auf eine Barke passten die Insassen mehrerer Waggons. Aufgefüllt wurde so lange, bis kein Fußbreit Platz blieb. Die Transporte kamen aus allen Teilen des Landes, das Sprachgewirr war entsprechend. Ein Dozent aus Moskau, dem die Leidenschaft für das Englische fünf Jahre Lager eingebracht hatte, regte an, statt auf den Fluss zu starren, doch die Nationalitäten durchzuzählen. Heraus kamen 38. Natürlich stellten die Russen und die mit ihnen brüderlich verbundenen Völker der Sowjetunion das Gros der NKWD-Beute: Ukrainer, Usbeken, Kasachen, Armenier, Georgier, Tschuwaschen, Turkmenen, Karatschaier, Balkaren, Karelier, Aserbeidschaner, Moldauer, Tadschiken, aber auch Udmurten und Tataren. Und wo die Tataren waren, konnten die Mongolen nicht weit sein. Und wo Mongolen waren, waren auch Mandschuren, und wo die waren, gab es auch Chinesen. An Bord waren es fünf. Die Japaner waren hingegen nur mit einem Häftling vertreten, der Türken und Griechen gab es da schon mehr. Skandinavier oder Spanier waren auch dabei. Natürlich, nicht zu vergessen, reichlich Polen und Deutsche.
    Endlich legte der Kahn schräg im Wasser liegend ab. Wer im Bauch auf den Schotterresten saß, hatte es bequemer, auch der kalte Wind konnte ihm dort nichts anhaben, aber er sah von der Flusslandschaft nichts. So war Lorenz froh, dass er einen Deckplatz hatte, weit vorn zwischen den Tauen. Die Ufer der Petschora waren so ganz anders als die der Flüsse, die er kannte. Selbst die Wolga erschien ihm nirgendwo so unnahbar und rau. Bäume wurden in einem dünnen Streifen entlang des Ufers geschlagen. Genau so weit, wie es noch leicht war, die Stämme in den Fluss zu schieben, wo sie als Flöße davonglitten. Dahinter begannen die Weiten der Taiga. Immer wieder zogen Hügel vorüber, auf denen abgesägte Baumstümpfe mannshoch in die Luft ragten. Ein trauriger Anblick. Als hätte jemand mit riesigen Nägeln ein Landschaftsbild zusammengenagelt. Lorenz konnte sich den Sinn nicht erklären. Auch die neben ihm Sitzenden zuckten nur mit den Schultern. In der ganzen Welt sägte man die Bäume über dem Boden ab. Hier nicht. In diesem Land war vieles so ganz anders.
    Ein Kapitänsdinner war nicht vorgesehen, die Gefangenen schliefen hungrig ein. Jeder in der Hoffnung, am Morgen würde es schon etwas Brot geben und, wenn man Glück hatte, auch eine Blechtasse «Kipjatok». Erst im Norden ging Lorenz auf, warum in der russischen Sprache heißes Wasser nicht einfach «gorjatschaja Woda» heißt, sondern es ein eigenes Wort dafür gibt. Manchmal reduziert sich das Leben auf das Wesentliche: ein trockener Platz, ein Kanten Brot, Feuer und eben «Kipjatok». Die Träume von Kaffee oder Tee sind dann längst ausgeträumt. Es geht nur noch um diesen Moment, diesen einen Tag. Ob es noch einen anderen geben wird, wer weiß das schon. Der «Kipjatok» hilft jedenfalls, darauf zu hoffen.
    Wie und was der Kapitän in der Nacht sehen konnte, ließ sich nicht sagen. Ob er eine Karte hatte, auch nicht. Bojen gab es nicht. Auf jeden Fall machte die Barke keine Anstalten anzulegen. In Workuta wurden frische Sklaven gebraucht. Die Gefangenen richteten sich ein, so gut es ging. Auch Lorenz schlief, mit dem Kopf auf dem Koffer. Nicht weil es bequem war, sondern damit der nicht gestohlen wurde. Selbst auf diesem engen Raum war es aussichtslos, etwas wiederzukriegen.
    Ein entsetzlicher Schrei weckte ihn.
    «Auf die Pferde!», dröhnte eine heisere Stimme. «Säbel raus! Attacke!»
    Lorenz hatte, schlaftrunken, wie er war, Mühe zu verstehen, wo er sich überhaupt befand und was da gerade vor sich ging.
    «Ich werde euch Hurenböcke in Stücke hauen, dass kein räudiger Hund von euch fressen will. Attacke! Mir nach!»
    Endlich ging ein Scheinwerfer an. Der Lichtkegel tastete sich über die Köpfe der Schlafenden. Man sah, wie zwei Wächter versuchten, einen zappelnden alten Mann festzuhalten. Mit Mühe gelang es ihnen, ihm die Arme auf den Rücken zu drehen. Lorenz erkannte ihn, Pjotr hatte ihn auf den Alten aufmerksam gemacht. Ein ehemaliger Kommandeur der Roten Armee,

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