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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Mitstreiter des legendären Heerführers Tschapajew; mit ihrem Reiterregiment hatten sie im Bürgerkrieg die Weißen geschlagen. Als der Alte später verhaftet wurde, verstand er nicht, warum. Er begriff nur, dass ihn Menschen einsperrten, die vom Kampf und der Front einen Dreck wussten. Er sagte ihnen das, dafür schlugen sie ihn halb tot. Er verstand es trotzdem nicht.
    In all den Tagen hatte er mit keinem gesprochen. Selbst auf der Barke, wo man den anderen nicht ausweichen konnte, saß er stumm. Früher, in der Reiterarmee, da war alles klar: Vor ihm standen die Koltschak-Truppen, die den Zaren wiederhaben wollten, und hinter ihm die Arbeitermacht. Und er wäre lieber im Sattel gestorben, als zurückzuweichen. Es ging um Leben und Tod und um eine lichte Zukunft. Jetzt war alles verdreht. Wo war vorn? Wo hinten? Wo stand der Feind? Und wer war der überhaupt? Viele, sehr viele zermarterten sich darüber den Kopf und verzweifelten. Für einen Haudegen wie ihn ließen sich die Fragen schon gar nicht beantworten. Die Revolution, die er meinte, war das jedenfalls nicht.
    Nun hatte er sich aus der Realität verabschiedet. Er wähnte sich mit dem Kavallerietrupp im Angriff. Er schrie und schlug um sich. Bevor die Wächter es schafften, ihn zu fesseln, biss er einem in die Hand. «Attacke!» Als die Barke an der Ussa, einem Nebenfluss der Petschora, anlegte, wurde der Alte als Erster von Bord gebracht.

III
    Es war zu spät.
    Der Junge scherte aus der Kolonne aus, schlurfte zum Bach, sank auf die Knie, tauchte sein Gesicht in das klare Wasser und trank und trank. Er hatte die Welt vergessen.
    Doch sie ihn nicht.
    Wie aus dem Nichts stand der Rotarmist neben ihm. Der Gewehrverschluss klickte kalt. Dann senkte sich der Lauf an den Hinterkopf des Trinkenden, der ahnungslos tief über dem Wasser verharrte, erhitzt von der ersten Frühlingssonne und dem langen Marsch. Und ehe noch einer etwas rufen oder tun konnte, bellte ein Schuss, dessen Widerhall sich nach und nach in der Ferne zwischen den Kiefern verlor.
    Der Körper des Jungen sackte zusammen und rutschte bis weit über die Schultern ins Wasser, das sich, wie von langen Bändern durchwoben, rot färbte.
    Die Kolonne gefror. Entsetzt starrten die Häftlinge auf den Fluss. Weder ein Schrei noch ein Fluch noch eine andere menschliche Regung durchbrach die Stille.
    Schwere, drückende Stille.
    Es mochte sich allenfalls um Sekunden handeln, aber Lorenz kam dieser Moment quälend lange vor.
    Als Erste hatte sich eine ältere Frau aus der Schockstarre befreit. Sie rannte mit wutverzerrtem Gesicht auf den Wachmann zu, der sie abschätzend musterte.
    «Du Mörder! Du grausames Vieh!», schrie sie ihn an, ohne darauf zu achten, dass er den Lauf des Gewehrs langsam auf sie richtete.
    «Der erste Mord, den du begangen hast, war der an deiner Mutter. Die starb, als du auf die Welt kamst. Du bist ein Mörder. Und es gibt für dich kein Vergeben. Nicht in diesem Leben. Und nicht in einem anderen.»
    Sie blieb stehen, nicht weil das Gewehr inzwischen direkt auf sie zeigte, sondern weil ihr entsetzter Blick erneut auf den Jungen fiel, dessen Blut neben ihren Füßen, mitgerissen vom Wellenspiel, stromabwärts rann. Ein paar Frauen nutzten den Augenblick der Verwirrung und schoben sie hastig zurück in die Kolonne, so dass der Wachmann sie nicht mehr sehen konnte. Der stand immer noch am Bach, das Gewehr schussbereit, den Körper des Jungen neben sich, die Augen auf die Häftlinge gerichtet. Er schien unentschlossen, ob er die Frau verfolgen sollte oder nicht.
    «Halt, wir machen Rast», tönte die Stimme des Leutnants, der den Gefangenentreck befehligte.
    Die Offiziere hassten es, wenn auf den Fußmärschen zu den Kohleminen Exzesse stattfanden, das bedeutete eine weitere Verzögerung. Geschwächt von schlechter Ernährung, gepeinigt von Mückenschwärmen, ohne feste Schuhe, geschweige denn Stiefel an den Füßen, kam die Karawane nur schleppend voran. Oft blieb das Ziel der Tagesetappe, die Baracken in einem der vielen Waldlager, unerreichbar. So schliefen die Häftlinge dort, wo der Konvoi zum Stehen kam. Ohne Zelte, ohne Decken, sie hatten nichts. Wenn dann am Morgen noch ein, zwei Häftlinge fehlten, gab es Ärger.
    Dennoch schwieg der Leutnant. Das Verhalten des Wachmanns war brutal, brutal und dumm, aber durch die Befehle gedeckt. Jedes Mal, ehe sich eine Kolonne im großen Sowjetland in Bewegung setzte, erklang der allen Gefangenen bekannte Spruch des Begleitoffiziers:
    «Jeder

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