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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Schritt links oder rechts gilt als Fluchtversuch, es wird ohne Vorwarnung geschossen.»
    Dass es genau so und nicht anders gemeint war, wussten sie jetzt.
    Während sich die erschöpften Häftlinge zwischen den Wurzeln der Kiefern niederließen, befahl der Leutnant einer Handvoll Männern, ein Grab zu schaufeln. Das Werkzeug lag zusammen mit der wenigen Habe der Gefangenen auf einem der Fuhrwerke, die den Konvoi begleiteten. Kurze Zeit später hörte man das Kratzen von Metall auf Eis. Die Häftlinge versuchten, den Dauerfrostboden aufzubrechen. Schaufeln konnte man es nicht nennen. Eine schwache Märzsonne hatte dem Frost nur wenige Zentimeter Boden abgerungen.
    Als die flache Grube ausgehoben war, legten die Männer den Toten, so wie er war, in das Loch. Nur ein kleiner Hügel frischer Erde und ein paar Findlinge erinnerten daran, dass hier ein Mensch begraben war. Ein Pope fand sich nicht in ihrer Kolonne. So standen die Gefangenen ein paar Minuten schweigend um die Steine. Dann setzten sie sich wieder auf ihre Plätze und wickelten das klebrige Brot aus, das sie am Morgen als Tagesration erhalten hatten. So still war es noch nie bei einer Rast. Selbst die Vögel, die nach dem langen Winter mit ihrem fröhlichen Choral überschwänglich die Sonne und den blauen Himmel feierten, waren verstummt, verschreckt durch den Schuss und die graue Masse der Menschen, die sich unter den Bäumen ausgebreitet hatte.
    Lorenz kaute sein Brot. Mehr Marschverpflegung gab es nicht. Es sei denn, sie kämen rechtzeitig bei den Baracken an, dort konnten sie mit Kascha, einem Schlag Brei, rechnen. Aber das schien unwahrscheinlich. Heute waren sie einfach zu langsam. Viel zu langsam. Jeder Zwischenfall kostete Zeit. Zeit, die am Ende des Tages fehlte und die Wachen wütend machte. Da sich der Aufbruch verzögerte, begann Lorenz, seine aufgeweichten Filzstiefel abzudichten. Sie waren ihm als einziges Schuhwerk geblieben. Die Schuhe mit Gummisohle fehlten schon in Engels, samt Pullover. Solange noch Schnee lag, schmerzte der Verlust der Schuhe nicht all zu sehr. Filzstiefel waren für den russischen Winter eine ideale Angelegenheit, warm und leicht, man musste sich nicht so schnell Sorgen machen, dass die Zehen abfroren.
    Nun hatte sie aber der Frühling auf dem Marsch in den Norden eingeholt. Überall Morast, Pfützen und Bäche. Im Nu sog sich der Filz mit Wasser voll, und alle Versuche, wenigstens die Sohle dicht zu bekommen, scheiterten. Lorenz hatte sich Bastschuhe aus Birkenrinde geflochten, als eine Art Galoschen. Da blieb zwar nicht ganz so viel Lehm und Erde hängen wie bei den unsäglichen Tanks, die aus alten Autoreifen geschnitten wurden, dafür floss das Schmelzwasser wie bei Ebbe und Flut rein und wieder heraus. Um wenigstens ab und zu trockene Füße zu haben, war das häufige Wechseln der Fußlappen die einzige Lösung. Inzwischen wusste er auch, wie die Stofffetzen richtig gewickelt wurden. Aus schmerzhafter Erfahrung. Denn kaum hatte man nicht aufgepasst, rutschte alles zusammen und rieb beim Laufen die Füße wund. Irgendwann war auch Lorenz davon überzeugt, dass trockene Fußlappen so etwas Ähnliches wie Glück seien und der Erfinder der Wollsocken noch nicht geboren war.
    Unmerklich veränderte sich auf ihrem Marsch die Landschaft. Die Wälder wurden licht, die Kiefern geduckt. Dann verschwanden die Bäume ganz, bis auf ein paar Krüppelbirken, die hinter den Findlingen kauerten. Kahles Land, hin und wieder zerschnitten von Erdbrüchen, durch die sich zugefrorene Bäche wanden. Es war kalt, sehr kalt. Aus den Schneefetzen wurden wieder Schneefelder. Der Winter, den sie längst hinter sich gelassen glaubten, kehrte zurück. Der Tag begann grau und endete grau. Die Luft flirrte schneidend und dünn wie auf einem Berggipfel. Arktis, das war nicht einfach nur der Norden. Selbst wenn die Sonne schien, sie blieb schwächlich, eine Sonne ohne Kraft und Hoffnung.
    Der Fluss Workuta, erstarrt unter einem eisigen Panzer, empfing den müden Tross abweisend. Von einer Abraumhalde, deren Umrisse sich scharf gegen den Horizont abzeichneten, wehte der Wind einen schwarzen Schleier Kohlestaub über die Flussebene. Da, wo sich die Körner ins Eis fraßen, war es schwarz.
    Schwarzes Eis.
    Während sich die anderen ungerührt weiterschleppten, blieb Lorenz stehen und starrte das unwirkliche Bild an. Was ihm in diesen Tagen und Monaten widerfuhr, das war die Umwertung all seiner bisherigen Erfahrungen: Was als sicher galt, war

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