Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
zerbrochen. Was sauber schien, lag im Schmutz. Was wahr zu sein hatte, wurde Lüge. Selbst das Eis wollte nicht mehr rein und sauber sein.
Die Gefangenen passierten das Lagertor, vorbei an einer schiefen Bretterbude mit Wachturm, auf dem das mächtige Auge eines Scheinwerfers hockte. Unruhe kam auf. Die Gefangenen hofften, Schutz vor dem heraufziehenden Schneesturm zu finden, und beeilten sich. Doch Entsetzen breitete sich aus: Die Baracken von Workuta waren Zelte. Statt fester Holzhütten, wie man sie weiter südlich im Land allerorts fand, gab es nur mannstief in den gefrorenen Boden getriebene Gruben. Eingefasst wurden sie von wenigen Brettern und Balken, die allenfalls einen Meter über die Erde ragten. Die Dächer bestanden aus Zeltplanen, aus immer und immer wieder geflicktem «Bresent». Kein Ofen der Welt konnte eine solche Behausung warm halten. Nicht bei minus vierzig Grad.
Das hieß für die Gefangenen, nach einem schweren Arbeitstag in der Kohlegrube oder draußen in der Tundra, in den ewig klammen Sachen zu frieren. Wer es nicht schaffte, mit der Zeit in der Lagerhierarchie so weit aufzusteigen, dass er näher zu einem der beiden Öfen vorrücken konnte, erfror irgendwann. Die Reihen der doppelstöckigen Holzpritschen zogen sich rechts und links an den Wänden entlang. Am Ende der Baracke die «Suschilka», ein abgetrenntes Kabuff. Hier hängte man abends wenigstens die Wattejacke auf, in dem festen Glauben, sie am Morgen etwas trockener zurückzubekommen. Decken gab es nicht. Nur Matratzen, gefüllt mit Sägespänen.
Für richtige Baracken fehlte das Material. Holz, das nicht im Schacht zum Abstützen der Stollen benötigt wurde, ging für den Bau der Wachtürme und Zäune drauf. Da in der Tundra keine Bäume wachsen, musste jedes Brett über Hunderte von Kilometern herbeigeschafft werden. Nur die Lagerverwaltung und die Wachleute hatten feste Hütten. Alles andere, was zum Lagerareal gehörte, Küche, Speisesaal, Magazin oder die Krankenstation, war in der gleichen erbärmlichen Bauweise errichtet wie die zwanzig Erdlöcher der Gefangenenunterkünfte. Auch die Latrinen, und die hatten zu all dem noch nicht einmal ein Dach.
Workuta war zu dieser Zeit noch keine Stadt. Zumindest nicht in dem Sinn, wie ihn Lorenz verstand, auch wenn die Zahl der Häftlinge im Jahr seiner Ankunft auf vierzigtausend anschwoll und später bei weit über hunderttausend lag. Der Ort bestand aus einer Anhäufung von Lagern und Siedlungen, die je nach Bedarf um die Schächte, Werkstätten oder Baubetriebe herum angelegt wurden. Mit einiger Verwunderung bemerkte Lorenz, dass zwischen den einzelnen Schächten ein Gleis verlief. Denn es sollten noch Jahre vergehen, bis die von einer Sklavenarmee verlegte Trasse, zu deren Bau auch Pjotr abkommandiert worden war, das Kohlebecken mit dem Rest des Landes verband. Die «Lagerniki», wie sich die Bewohner des Gulag-Reichs nannten, waren davon überzeugt, dass unter jeder Schwelle dieser Bahn ein Toter lag. Sie übertrieben nicht.
Woher der mit so viel Schrecken verbundene Name des Flusses Workuta stammte und wie er zu erklären sei, dazu gab es viele Deutungen. Am überzeugendsten schien, dass sich das Wort «Wor» auf die russische Bezeichnung für Dieb bezog; «Kuta» konnte seinen Ursprung in «Kutjosh» haben, das heißt so viel wie Gelage. Die Kombination beider Bestandteile ergibt ein Diebsgelage. Und das klang insofern sinnvoll, als dieser lebensfeindliche Ort durch seine Abgeschiedenheit lange Zeit als eine Art Rückzugsgebiet für allerlei zwielichtiges Gesindel galt. Weder die Hand des Zaren noch die seiner Nachfolger reichte so weit in den Norden.
Der einsetzende Schneesturm sorgte dafür, dass der Appell beim Eintreffen im Lager ausfiel. Gefangenenzählen galt ansonsten als Lieblingsbeschäftigung der Lagerleitung. Es hätte ja jemand entlaufen sein können. Bloß wohin? In die verschneite Tundra zu fliehen, konnte nur ein Wahnsinniger wagen. Wer nicht zu Eis gefror, den lieferten die eingeborenen Nenzen für ein paar Flaschen Wodka gerne wieder ab. Ohne die Hilfe der Nomaden hatte eine Flucht keinerlei Aussicht auf Erfolg.
Dass an diesem Abend das ewige Aufrufen der Namen, das Abzählen der Reihen ausblieb, war kein Akt des Mitgefühls. Der eisige Wind machte nicht nur den Gefangenen das Leben schwer, sondern auch ihren Peinigern. Die Wachen wollten sich endlich aufwärmen, es zog sie zu ihrem Wodka. So wurden die Neuen auf die Baracken verteilt und den brutalen
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