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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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vorbereitet. In diesem Zusammenhang wäre Lorenz zwar nur ein kleiner Fisch gewesen, aber er passte mit seiner Biografie in das Raster. Doch dann wurde der Hauptzeuge «der internationalen Verschwörung zum Sturz der Sowjetmacht» unter ungeklärten Umständen in Lefortowo ermordet. Er hatte im Verhör Dutzende ranghohe Funktionäre der verschiedensten kommunistischen Parteien als Drahtzieher bezichtigt. Mit seinem Tod brach die wacklige Anklage in sich zusammen. Nun wurde auch Lorenz nicht mehr gebraucht. So kam er ein drittes Mal davon, ohne wirklich zu wissen, wie das passieren konnte.
     
    Der Zug rollte und rollte. Sadisten, Folterknechte. Verbrecher. Wie sollte man sie nennen? Der Tag, nachdem sie den Gefangenen salzige Heringe gegeben hatten, wurde schrecklich. Die Nacht danach noch schlimmer. Die Menschen wimmerten nach Wasser. Aber der Zug rollte und rollte. Und wo kein Halt, da auch kein Wasser. Nicht einmal dieser dreckige Zinkeimer Wasser, den es sonst auf jeder Station gab. Nichts. Mit Vieh, für deren Transport die Waggons bestimmt waren, würde niemand so umgehen. Die Fracht wäre viel zu kostbar. Mit Vieh hätte man Mitleid. Für Menschen war Mitleid nicht vorgesehen.
    Tage vergingen. Mal gab es Wasser, aber keinen Fisch. Mal gab es Fisch, aber kein Wasser. Dann gab es auch eine Suppe, mit Graupen und Brot. Dann nur gedämpfte Rüben.
    Und der Zug rollte und rollte und rollte.
    Bis sie endlich am Ziel waren, an der Petschora. Ein dunkler, unwirtlicher Fluss, hoch im russischen Norden. Lange Zeit war das die sichtbare Grenze der Zivilisation. Nicht mehr weit, und die Wälder hörten auf, die Tundra begann. Wo der eisige Polarwind das Quecksilber im Winter bis auf fünfzig Grad unter null drückte. Nur die Nomaden, die den Rentierherden folgten, besiedelten die Region. Zu rau. Zu menschenfeindlich. Doch der Rohstoffhunger des Landes duldete auf der Karte keine weißen Flecken mehr. Um den Reichtum des nördlichen Ural wussten schon frühere Generationen. Kohle, Öl, seltene Erze, sogar Gold fanden die Geologen. Bloß leben konnte man dort nicht. So hatte noch der Zar in einem Dekret untersagt, die Besiedlung der Region voranzutreiben. Jetzt brach die neue Zeit in die eisige Ruhe des hohen Nordens.
    Noch einmal röhrte weit vorn die Lokomotive. Unter lautem Poltern und ohrenbetäubendem Quietschen kam der Zug zum Stehen. Durch die Ritzen des schadhaften Waggons konnte man nicht viel erkennen, aber hören. Das laute Fluchen der Wachleute, die auf und ab rannten, das nervöse Bellen der Hunde. Dann öffneten sich die Waggontüren wie Schleusen. Die Gefangenen ergossen sich als grauer Brei auf den Schotter zwischen den Gleisen. Der Versuch, alle antreten zu lassen, misslang. Als die Ersten den Wasserbehälter sahen, an dem die Lokomotiven betankt wurden, gab es kein Halten. Sofort war der Tank mit einer Menschentraube zugewachsen. Erst als alle getrunken hatten, gelang es den Soldaten mit Schlägen und Tritten, so etwas wie eine Marschordnung herzustellen. Es war tiefer Nachmittag, die Wachen wollten fertig werden.
    Bevor sich die erste Kolonne in Bewegung setzte, inspizierte ein Trupp Uniformierter die Reihen und sortierte kräftige Männer aus. Lorenz, der in den Monaten seiner Gefangenschaft völlig abgemagert war, gehörte nicht dazu. Aber Pjotr. Aus den Gesprächsfetzen der Wachen konnte man verstehen, dass sie Arbeitskräfte für den Gleisbau suchten. Ohne Eisenbahn blieben die Kohlevorkommen der Arktis wertlos. Gleise zu verlegen war genauso eine Schinderei wie der Kohleabbau. Wer also das leichtere Los hatte, Pjotr, der zurückblieb, oder Lorenz, der weiter nach Workuta musste, konnte keiner wissen. Sie gaben sich die Hand und wünschten sich Glück. Das Ende einer kurzen Lagerfreundschaft.
    Der Weg sollte Lorenz Hunderte Kilometer Fußmarsch durch die Wälder und Sümpfe Richtung Norden führen. Allein der Gedanke daran ließ ihn erschaudern. Wie groß war die Erleichterung, als ihre Kolonne nicht den Pfad zum Zwischenlager einschlug, von dem am nächsten Morgen der Aufbruch in die Taiga erfolgte, sondern es geradewegs hinunter zum Fluss ging. Dort lagen zwei große Barken, die ursprünglich dazu dienten, Kies zu befördern; jetzt wurden sie mit menschlicher Fracht beladen. Die Bretter des Stegs wippten bei jedem Schritt der Gefangenen bedenklich, an der rostigen Bordwand schmatzte das trübe Wasser in Erwartung eines Pechvogels.
    «Dawaj, dawaj!», schrien die Wachen, jene russischen Wörter, die

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