Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
die Tür. Drei schwere Vorhängeschlösser.
Doch Lorenz konnte nicht mehr schlafen. Es war noch dunkel, als er aufstand und sich auf den Weg in die Werkstatt machte. Am Lagertor holte er seinen Schein und eine Papirossa heraus, der Soldat wollte nur die Zigarette. Die zweite Zone, der Bereich mit den Werkstätten und der Bahnlinie, wurde nicht so scharf bewacht wie die erste, wo die Baracken der Häftlinge standen.
Sie rauchten und schwiegen. Dann brummte der Wächter:
«Die haben heute Nacht einen weggeschafft.»
«Und?»
«War erst am Abend von der Etappe gekommen.»
«Und, was war mit dem?»
«Hat sich totgesoffen.»
«Totgesoffen?»
«Ja, totgesoffen! Ich weiß auch nicht, wie der das angestellt hat. Unsereins bekommt die ganze Woche keinen Tropfen Wodka über die Lippen, und der hat noch keine Pritsche und ist schon sternhagelvoll. Für die ist das doch kein Lager, sondern der reinste Urlaub.» Er ließ den Rauch seiner Papirossa in der kalten Luft aufgehen. «Nur keine Weiber, das ist das Einzige, was fehlt.»
«Bist du sicher, dass er tot ist?»
«Na klar, die haben ihn an mir vorbeigetragen. Liegt jetzt im Geräteschuppen. Die Wanzen werden sauer sein. Ist schon kalt. Aber den Ratten macht das nichts aus.»
«Ratten?»
In Gedanken sah Lorenz den steifen Körper Hofers, wie er sich an den Enden im Halbdunkel leicht bewegte. Denn um ihn herum würde es wimmeln. Die hungrigen Tiere hatten sich den Verhältnissen angepasst. Von Pietät verstanden sie nichts, das Leben ging weiter. Auch wenn wieder einer fehlte. Sie holten sich von ihm nur das, was noch zu gebrauchen war.
II
Die Tür flog auf. Lorenz sah die kräftige Gestalt Sascha Bauers im Gegenlicht der tiefstehenden Nachmittagssonne.
«Sie suchen dich!» Sein Gesicht war erhitzt, die Stimme überschlug sich.
«Mich?» Lorenz schaute ihn ungläubig an.
«Ja, dich. Und nicht nur dich. Sie suchen alle Reichsdeutschen!»
«Du irrst. Sie suchen Spione und Saboteure. Sie suchen die, die mit Auftrag aus Deutschland nach Russland kamen und die unter die heiße Hand gerutscht sind. Die politischen Emigranten, das ist eine ganz andere Sache. Die können nicht nach Deutschland …»
«Nein! Nein! Es sind wirklich alle gemeint. Ich musste heute zum Lagerkommandanten. Weißt schon, es ging noch mal um den Unfall vorige Woche auf dem Schacht. Da waren die gerade dabei, alles durchzusprechen. Dein Name ist gefallen, ich hab’s genau gehört. Dass ihr mir auch den Mechaniker nicht vergesst, meinte der Politruk mit seiner schiefen Schnauze. Die Kakerlaken sind sofort ausgeschwärmt. Die müssen gleich hier sein …»
Der Politruk galt als graue Eminenz des Lagers. Offiziell gab der Kommandant die Befehle, inoffiziell machte er das, wozu ihn der Politruk, der «Politische Leiter», anwies. Ein beschränkter Eiferer, der dem Geprassel der eigenen Propaganda glaubte. Er hatte schon vor einigen Tagen dafür gesorgt, dass Lorenz seinen Passierschein abgeben musste und die Lagerzone nicht mehr verlassen durfte.
Kruglow, der die Aufregung aus seinem Kontor heraus mitbekommen hatte, eilte herbei und schaute Lorenz vielsagend an. Die Werkstatt lag oberhalb der anderen Baracken, von hier aus hatte man einen guten Überblick.
«Da unten scheint wirklich etwas im Gange zu sein. Ich gehe davon aus, dass Sie, Lorenz Lorenzowitsch, nicht die Absicht haben, derzeit nach Deutschland zu reisen?»
«In die Hände der Gestapo? Ich bin doch nicht verrückt!»
«Also brauchen wir einen Platz, an dem man Sie in den nächsten Tagen nicht findet. Der letzte Transport geht übermorgen. Dann sind die Flüsse endgültig zugefroren, und die Schiffe stecken fest. Bis zum Frühjahr kommt dann keiner mehr weg. Höchstens zu denen da oben …»
Es hätte seines Fingerzeigs Richtung Himmel nicht bedurft, die anderen hatten ihn auch so verstanden.
«Und was im Frühjahr ist, kann heute kein Mensch sagen. Aber wohin mit Ihnen?»
Sascha blickte ratlos von Lorenz zu Kruglow.
«Hier in der Werkstatt finden sie ihn sofort. Auch im Bahnschuppen. Unten in den Baracken sowieso.»
Jemanden im Lager verschwinden zu lassen war keine leichte Aufgabe. Nicht nur die Wachen waren gefährlich, auch die Spitzel.
«Ich wüsste da einen Platz …», mischte sich der Leiter des Kesselhauses ins Gespräch. Er wollte eigentlich nur einen Auftrag in der Werkstatt loswerden. Irgendwo im Wirrwarr der zahllosen Rohre und Druckbehälter seines Kesselhauses war immer etwas undicht, aber diesmal eilte
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