Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
das Leben und ein neues, besseres Deutschland. Glaubt mir, die brauchen uns in Berlin allein deshalb, weil wir wissen, wie es auf jeden Fall nicht geht.»
«Auf das Überleben!» Sie tranken sich gegenseitig zu.
«Genau das ist es, Lorenz», Erich setzte nachdenklich sein Glas ab, «hier weiß ich, woran ich bin. Mich können die hier mit nichts, rein gar nichts mehr überraschen. Irgendwann muss ja der Spuk vorbei sein. Dann werde ich wieder in meine Moskauer Klinik gehen. Bei jedem Deutschen aber müsste ich mich fragen: Ist das auch einer von denen, die Kinder und Frauen in die Gaskammer getrieben haben? Behandelst, rettest du gerade so einen? Nein, so könnte ich nicht arbeiten und nicht leben.»
«Nun, Kinder und Frauen umbringen, das können die hier auch. Da braucht es die Deutschen nicht dafür.»
Alle in der Runde wussten, wovon Lorenz sprach.
«Seid doch mal leise», zischte Willi plötzlich. Er stand auf und lief zur Tür, wo an der abgeschabten Wand der Prijomnik hing. Voller Pathos berichtete ein sowjetischer Reporter aus dem deutschen KZ Buchenwald. Für die Zuhörer in einer Lagerbaracke in Workuta klang vieles sehr vertraut. Fast wie ein Fachvortrag.
Es wurde still. Jedes Detail war wichtig. Der Weg durch das Tor. Die Genickschussanlage. Das Krematorium. Der Steinbruch. Nur als der Reporter das Innere der Baracken beschrieb, flammte sarkastisches Gelächter auf. Ihm war aufgefallen, dass es für jeweils zwei Gefangene nur eine Decke gab. Vor allem Sascha Bauer konnte sich nicht beruhigen.
«Wie unmenschlich!», rief er. «Diese Bestien!»
Er lachte und lachte und wollte nicht damit aufhören.
«Zwei Decken für einen? Oder hieß es doch: eine Decke für zwei? Da hat es die Leute unter den Faschisten ja wirklich hart getroffen. Aber Jungs, sagt mir, was sind überhaupt Decken? Und wofür werden die gebraucht? Ich kann mir darunter nichts vorstellen.»
In das Hohngelächter mischte sich Bitterkeit. Lorenz fluchte, natürlich russisch. Ein deutsches Schimpfwort schien ihm in diesem Zusammenhang zu harmlos. Dann goss er allen nach.
«Auf die Kameraden, die es nicht geschafft haben. Hier. Und dort.»
Schweigend tranken die Männer.
Das Jahr 1947:
Großes Foto: Blick über den Fluss auf den 8. Schacht und die Wohnsiedlung auf dem Rudnik. Kleines Foto: Lorenz Lochthofen fotografiert im Wohnzimmer. Unterlage: Das russische Sparbuch der Familie.
Europa zittert unter einem der kältesten Winter seit Menschengedenken. In Deutschland wird die amerikanisch-britische Bizone gegründet. Als «Träger des Militarismus» wird Preußen formell als Land aufgelöst. Thor Heyerdahl sticht auf dem Floß Kon-Tiki in See. Die Truman-Doktrin markiert die Position des Westens im Kalten Krieg. Der Marshall-Plan wird verkündet. Schwarze Listen in Hollywood belegen kritische Künstler mit Berufsverbot. Die UNO beschließt die Teilung Palästinas. Gründung der Gruppe «Junge Literatur», die sich später «Gruppe 47» nennt. In der Sowjetunion startet eine neue Säuberungswelle, die sich gegen «wurzellose Kosmopoliten» richtet.
1947
Er stand in der Haustür und schaute hoffnungsvoll der Briefträgerin entgegen, die in Gummistiefeln über den Hof watete. Das Hochwasser ließ langsam nach, der zu einem See angeschwollene Fluss kehrte in sein Bett zurück. So konnte die Postfrau ohne Risiko an den breitgelaufenen Schlammpfützen vorbei, deren Ränder von einer ersten dünnen Eiskante gesäumt waren, von Tür zu Tür springen. Quer über ihrer dürren Brust hing die schwarze Segeltuchtasche mit den Zeitungen und Briefen und zog sie fast in den Morast.
«Nichts mitgekommen, Lorenz Lorenzowitsch!», rief die Ukrainerin schon aus der Ferne. «Vielleicht ist ja nächste Woche etwas dabei.»
«Schon gut, Maria Petrowna, Sie haben ja keine Schuld. Aber es ist ein wichtiger Brief, auf den ich warte.»
Lorenz ging gedrückt ins Haus. Vor einem Jahr hatten sie ihn aus der direkten Lagerhaft entlassen. Aus den ursprünglichen fünf Jahren Arbeitslager waren neun geworden. Nichts Besonderes in Workuta. Erst recht nicht für einen Deutschen. Die Hoffnung, nach dem Krieg die verfluchte Stadt endlich verlassen zu können, gar in die Heimat zurückzukehren, hatte sich nicht erfüllt. Es wollte sich einfach nichts bewegen.
Lena, seine Frau, hatte erst vor wenigen Wochen entbunden, der Kleine hielt alle auf Trab. Ein Glück, dass sie Jegorowna hatten. Unter diesen Umständen eine Kinderfrau zu finden war nicht einfach. Dass
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