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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Klick, klack, klick, klack, hörte man die schwarzen Spielsteine aufschlagen.
    «Ich glaube, Jupp, so einer weiß noch nicht einmal, von welcher Seite er die Schaufel anpacken muss», begann der Schmächtige das Gespräch. «Auf die Idee, in so einer gottverfluchten Gegend Schienen zu verlegen, muss ja erst mal einer kommen. Der Führer hatte schon recht, wenn er beim Russen aufräumen wollte. Allein können die das doch nicht.»
    «Pass auf, was du sagst, wenn der dich versteht, bist du dran», mischte sich ein Dritter ein, der Aussprache nach ein Rheinländer.
    «Ach was, der Russki kann doch kein Deutsch. Sonst hätte er längst etwas gesagt. Stimmt’s, Iwan?»
    Unbeirrt freundlich lächelnd stammelte Lorenz:
    «Ich, Deutsch, ne ponimaju.»
    «Na bitte, er versteht nichts.»
    Der, den sie Jupp nannten, drehte sich zu den anderen um.
    «Sag ich’s doch, dumm wie alle Russen.»
    Alle lachten. Bis auf einen. Einen kleinen, etwas in die Wurzel gegangenen Kerl mit blasser Haut und fast rotem Haar:
    «So dumm sind sie nun auch wieder nicht. Sonst wären wir nicht hier und müssten nicht in diesem stinkigen Morast ihre erbärmliche Bahnstrecke legen.»
    Jupp reagierte verärgert.
    «Quatsch. Der Führer konnte ja nicht ahnen, dass der Winter vor Stalingrad so beschissen wird …»
    «Du und dein Führer. Hast du immer noch nicht genug? Der hat dich, mich, uns alle verarscht. Mit Sommerklamotten haben wir bei minus vierzig Grad in den eisigen Löchern gesessen, dazu der schöne Klang der Stalinorgeln. Schon vergessen? Und ob einer von uns den Winter hier oben übersteht, kann auch niemand sagen. Aber Hauptsache, dem Führer geht’s gut.»
    Jupp hatte längst jegliches Interesse an Lorenz verloren und blickte feindselig auf den Widersacher:
    «Wenn wir hier nicht unter Beobachtung wären, dann wüsste ich, was ich täte: dich an die Wand stellen!»
    Ein Teil der Zuhörer nickte zustimmend. Jupp packte die Schaufel und ging auf den anderen zu. Lorenz hätte nicht geglaubt, dass aus einer harmlosen Situation ein solcher Konflikt würde. Radebrechend machte er auf sich aufmerksam:
    «Ich nix sprechen. Nur Gedicht!»
    Jupp drehte sich um, als müsste er schnellstens eine lästige Fliege mit der Schaufel platt schlagen. Lorenz nutzte die Pause und sprach in reinstem Hochdeutsch:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh’
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
    Die Deutschen blickten verdutzt. Als Erster hatte der Rheinländer seine Fassung wieder:
    «Was war das denn?»
    Er musterte den merkwürdigen Russen.
    «Also, ich hab zwar auch irgend so ein Zeug in der Schule gelernt, aber jetzt aufsagen könnte ich nichts.»
    Nach einer kurzen Pause überlegte er laut:
    «Seid ihr sicher, dass der kein Deutsch versteht?»
    «Na ja, so ein Gedicht kann jeder lernen.» Jupp hatte endlich seine Sprache wiedergefunden und versuchte sich an einer Erklärung.
    «Irgendwann habe ich das schon mal gehört. Für Goethe war’s ja viel zu kurz. Und überhaupt, woher sollte so ein dummer Russki schon Goethe kennen?»
    Ehe Lorenz auf die messerscharfe Analyse etwas entgegnen konnte, kam der Sergeant verärgert herübergelaufen:
    «Dawaj, dawaj!»
    Mit einer eindeutigen Geste trieb er die Häftlinge an. Offenbar hatte er das Dominospiel verloren. Auch Lorenz musste sich beeilen.

Das Jahr 1945:

    Lorenz Lochthofen Mitte der vierziger Jahre als Mechaniker und am Fluss Workuta.

Die Rote Armee befreit das KZ Auschwitz, in dem über eine Million Juden ermordet wurden. Erfolgreicher Start einer V2-Rakete in Peenemünde. Alexander Solschenizyn wird verhaftet und zu acht Jahren Haft verurteilt. Bei dem alliierten Luftangriff auf Dresden sterben über 25   000 Menschen. Hitler erschießt sich im Führerbunker. Am 8. Mai erfolgt die Kapitulation Deutschlands. Die UNO-Charta wird unterzeichnet. Die amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroschima und Nagasaki fordern über 200   000 Tote. Am 2. September ist der Zweite Weltkrieg zu Ende. Nach Schätzungen starben 60 Millionen Menschen. Orwells Roman «Farm der Tiere» erscheint.

1945
    Aus dem «Prijomnik» an der Wand dudelten patriotische Lieder. Manche sagten auch Radio dazu, doch das war reichlich übertrieben. Es war kein richtiges Radiogerät. Im Volksmund hieß so etwas «Ersatz». Das deutsche Wort hatte die Wehrmacht auf ihrem eiligen Rückzug samt Millionen Toter zurückgelassen. Mit Staunen vernahmen die Russen während der

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