Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
unendlich dankbar.
Mit herzlichen Grüßen
Lorenz Lochthofen
P.S. Ich soll Dir die letzten Grüße Albert Müllers (Georg Brückmann) übermitteln.
Meine Adresse: Komi ASSR, gorod Workuta, Sawod Stroijmaterialow.»
Das Schreiben nahm keine halbe Stunde in Anspruch. Den Umschlag in Workuta zur Post zu bringen, hielt er nicht für ratsam. Er gab ihn einem Geologen mit, der nach Moskau fuhr. Dort in der Hauptstadt fiel ein Brief nach Ostberlin vielleicht nicht so auf. Hier hätten sie ihn einfach verschwinden lassen.
Jetzt hieß es warten.
Lange hatte er überlegt, ob er das Postskriptum anfügen sollte. Brückmann, dessen in Moskau bekannter Deckname Albert Müller lautete, hatte in der deutschen Sektion der Komintern vor allem mit Kaderfragen zu tun. Er war ein enger Vertrauter Piecks. Das Gerücht, Brückmann habe selbst Listen zusammengestellt, anhand deren der NKWD deutsche Emigranten verhaftete, kannte Lorenz, noch ehe ihm der Mann in seinem erbärmlichen Zustand in Workuta begegnete. Er lag in der Sanitätsbaracke, das Sterben hatte schon begonnen. Während sich Lorenz langsam von einer schweren Lungenentzündung erholte, verließen Brückmann die Kräfte. Dass man den Informanten selbst ins Lager geschickt hatte, gehörte zu den Methoden des Geheimdienstes. Zeugen verstummten so für immer.
Ob das Schicksal seines Gefährten den SED-Spitzenmann in Berlin bewegte? Pieck schien nicht ganz so abgestumpft wie viele andere Parteiobere. Aber auch er hatte zu lange in Moskau zittern müssen, als dass er ein Risiko eingehen würde. Lorenz wusste nur zu gut, dass ein solcher Brief in Berlin, wenn überhaupt, dann nur mit der Kohlenzange angefasst würde. Nachrichten von jenen, die saßen – und mochten es noch so verdiente Genossen sein –, liebte man gar nicht. Sie störten das Seelenheil derer, an denen der Kelch, aus welchem Grund auch immer, vorübergegangen war. Weil sie zu prominent waren, weil sie als Aushängeschild gebraucht wurden, weil es der Zufall wollte oder weil sie selbst tüchtig dabei halfen, Parteifreunde ins Lager zu schicken und wunderbar mit dem NKWD paktierten.
Auf Post aus Workuta wartete keiner.
So kam es, wie es Lorenz befürchten musste, die dürre Postfrau brachte nie ein Schreiben aus Berlin. Antwort auf seinen Brief erhielt er nicht. Obwohl seine Zeilen an Pieck fein säuberlich in seiner Akte abgeheftet wurden, einem Papierkonvolut, das unabhängig von ihm in Berlin bereits ein eigenes Leben führte.
Der NKWD ließ nicht locker. Noch hatte er die Macht. Lorenz spürte es, auch wenn die Kraft schwand. 1947 war nicht mehr 1937, aber noch saß im Kreml derselbe grausame Mann. Noch führte kein Weg fort aus dem Norden. Workuta lebenslang. Aber was hieß schon in diesem Leben lebenslang? Gerade war ein tausendjähriges Reich zu Asche zerfallen.
Über Monate tat sich nichts. Dann musste es plötzlich sehr schnell gehen. Er wurde in die NKWD-Zentrale bestellt, wo ihn ein geschniegelter Leutnant begrüßte. Lorenz hatte die Nacht zuvor nicht geschlafen. Wie sollte er wissen, welche Gemeinheiten sie sich wieder ausgedacht hatten? Der Anlass für das Treffen konnte harmlos sein, aber genauso gefährlich. Ein Jahr nach der großen Amnestie waberten aus Moskau die Gerüchte, eine neue Welle des Terrors sei im Anrollen. Da war es vielleicht sogar von Vorteil, in Workuta zu sein und nicht erst dorthin verschickt zu werden.
Der Leutnant im «schlauen Häuschen» schwatzte lange über dies und das, ob es bei der Teilung Deutschlands bleiben werde und was er, Lorenz, zur Rolle der USA sagen könne, die ja wohl zum Angriff auf die Sowjetunion blase, den stolzesten Hort aller Werktätigen dieser Welt. Auch was er denn so von der Bewegung der Schnellarbeiter-Methode im sozialistischen Wettbewerb hielt, wollte der Offizier wissen. Schließlich sei er als Hauptmechaniker ja ein Fachmann. Dann kam er endlich zur Sache:
«Sie haben einen Antrag auf einen Passport gestellt?»
Sofort war Lorenz angespannt. Natürlich, seine Frist war längst abgelaufen. Er wollte Papiere, die ihn zu einem freien Mann machten. Es war beileibe kein Auslandspass, sondern nur ein Ausweis, den sie hier nach alter Tradition großspurig Passport nannten.
«Nun, wir haben darüber beraten. Sie sind zwar ein Deutscher. Genauer gesagt: ein Reichsdeutscher. Da gibt es, wie Sie wissen, einen markanten Unterschied.»
Er schaute den Häftling an.
«Sie haben aber gegen die Faschisten gekämpft, da war ich noch ein
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