Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Besetzung, dass es neben der guten Butter auch eine «Ersatz-Butter» gab. Neben Honig auch Ersatz-Honig, Kaffee-Ersatz, Marmeladen-, Benzin-, Leder-Ersatz. Nichts schien den Deutschen heilig. Alles, was gut war, erfanden sie neu. Und all das Neue war nicht gut, eben Ersatz. Fortan hatte das Minderwertige in der russischen Sprache einen deutschen Zwilling. War etwas schlecht gemacht, ging der Schuh beim Regen aus dem Leim oder schrumpfte das Kleid nach dem Waschen um Größen, dann war das alles nicht nur «plocho», nicht nur schlecht, sondern Ersatz.
Wie der «Prijomnik». Eigentlich handelte es sich lediglich um einen Lautsprecher, zu dem aus einer Dose eine dünne Strippe führte, nicht einmal eine Skala, auf der man Paris, London oder Madrid lesen konnte, war vorgesehen. Im Kreml galt die feste Überzeugung, ein Sowjetbürger braucht das nicht. Radio Moskau von morgens bis abends, das musste einem Patrioten genügen. Immerhin, eine Freiheit war verblieben: Man konnte die Kiste ausschalten.
Erich Sternberg ging gemächlich zum Tisch, auf dem seine Utensilien lagen: Stethoskop, Thermometer, mehrere Spritzen, eine weiße Porzellanschale mit Löffeln und Skalpellen. Neben der Tischlampe stand eine Batterie Flakons. Vor allem die große Flasche «Seljonka» fiel auf, eine Art Jod, nur eben nicht braun, sondern schreiend grün. Und so scheußlich, dass der harmlose Name «Grünchen» völlig in die Irre führte. Die schwer abwaschbare Tinktur wurde stets großflächig auf Hände, Beine und andere Körperteile verschmiert. Gustav hatte das Pech, nach einem Sturz die gesamte rechte Gesichtshälfte mit dem giftgrünen Zeug verschönt zu bekommen. Noch Wochen später erschrak jeder, der ihn auch nur aus der Ferne sah. Eine Wasserkaraffe mit Glas und ein Spiritusbrenner vervollständigten das Arrangement.
«Aha, das Alibi», spöttelte Lorenz und schüttelte den Brenner.
Im Glasbauch gluckste es. Ein Arzt galt im Lager als verlässliche Quelle für etwas Trinkbares. Tausende Hektoliter Alkohol verschwanden im ganzen Land im Inneren des medizinischen Personals, ohne je einen Patienten gesehen zu haben. Keine andere Volkswirtschaft der Welt verbrauchte so viel reinen Spiritus wie die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Denn der neue Mensch, der Erbauer des Kommunismus, hatte eine markante Besonderheit: Er war immer durstig. Durstig auf Alkohol. Was bei anderen Gütern, bei Autos, Kühlschränken, Fleisch, Wurst oder Damenschlüpfern unerreichbar schien, im Pro-Kopf-Verbrauch reinen Alkohols hatte das Land die kapitalistische Konkurrenz schon lange weit hinter sich gelassen. Anders als die Deutschen, die sich auf ihr Bier etwas einbildeten, oder die Franzosen, die sich mehrheitlich dem Wein verbunden fühlten, hielt man sich in Russland nicht bei solch kindlichen Beschäftigungen auf. Ja, man trank auch Bier. Wenn es welches gab. Auch Wein. Aber im Grunde ging es nur um das eine: Wodka. Allenfalls Spiritus galt als ebenbürtig, im Notfall auch «Samogon». Der Rest war «Ersatz».
Willi Pasmanek, ein früher Freund Thälmanns, Horst Seydewitz aus der Werkstatt, der Schlosser Sascha Bauer, Gustav Berving, der Konditor und Koch, sie alle hatten sich auf diesen Abend gefreut. Gründe zu feiern gab es mehrere. Der Krieg war zu Ende. Die Deutschen geschlagen. Hitler tot. Leise Hoffnung keimte. Vielleicht kamen sie ja bald frei. Dazu noch der Geburtstag von Erich.
«Lass den Brenner stehen», rief der Mediziner Lorenz entspannt zu. «Der wird noch gebraucht. Ich hab was Besseres.»
Stolz präsentierte er eine Vierkantflasche, die den Gästen sehr gefiel. Reiner Spiritus. Fast ein Liter. Das versprach einen vergnüglichen Abend.
«Der Herr Professor haben gut vorgesorgt. Unsereins kann so etwas Feines zu seinem Ehrentag nicht bieten. Hätte ich doch lieber Medizin studiert.»
Gustav schob ein Paket über den Tisch.
«Wer trinkt, soll nicht hungern. Da ist Sakuska.»
Er wickelte das Zeitungspapier auf. Ein Dutzend «Piroschki», eine Art Pfannkuchen – nicht süß, sondern gefüllt mit Gehacktem –, leuchtete der Gesellschaft goldbraun entgegen. Lorenz holte aus seiner Arbeitshose ein Klappmesser hervor. Natürlich war es Gefangenen verboten, Messer zu besitzen, aber das hatte er selbst gemacht, und solange die Wachen es nicht bemerkten, besaß er ein Taschenmesser. Genussvoll schnitt er die «Piroschki» in kleine Stücke. Als Jüngster übernahm Sascha die Aufgabe des Mundschenks. Der Spiritus blubberte
Weitere Kostenlose Bücher