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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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er inzwischen als Hauptmechaniker im Baustoffwerk ordentlich verdiente, eröffnete neue Möglichkeiten. Wer jenseits des Polarkreises Arbeit fand und kein Häftling mehr war, bekam doppeltes Gehalt, doppelten Urlaub, und jedes Jahr im hohen Norden wurde für die Rente wie zwei gezählt. Dennoch hielt sich die Zahl derer, die bleiben wollten, in Grenzen, selbst unter den Russen, die an Entbehrungen gewöhnt waren. Auch Lorenz wäre lieber mit Kind und Frau in den Süden gezogen, doch das konnte vorerst nur ein Traum bleiben. Er saß in Workuta fest. Verbannung nannte sich das. «Na wetschnoje poselenie», «auf ewige Ansiedlung».
    Während in zivilisierten Welten das Wort «Verbannung» nur noch in Geschichtsbüchern vorkam, gehörte es in der Sowjetunion der Nachkriegszeit zum Alltag. Es betraf Millionen. Jene, die bereits festsaßen. Aber auch jene, die aus deutscher Gefangenschaft kamen und unter dem Generalverdacht des Verrats in die unwirtlichsten Gegenden des Landes, weit weg von ihrer Heimat und ihren Familien, verschickt wurden. Solche Gegenden gab es in dem Riesenreich viele. Nicht, dass ein Professor der Physik in einem Tschuktschen-Dorf besonders viel für den Aufbau des Sozialismus tun konnte, nein, darauf kam es nicht an, auch wenn überall Fachkräfte fehlten. Die Internierung im Lager oder das Festhalten am Rande der Zivilisation hatte nur einen Grund: Sie hielten die Menschen in Angst und Schrecken. Machte sie gefügig. Ließ nicht zu, dass sie Fragen stellten. Und erst recht nicht Antworten fanden, die eine Führungskaste nicht vorgestanzt hatte.
    Frei und doch nicht frei, Workuta, diesen verdammten Ort, die Stadt mit ihren Eisstürmen, der ewigen Dunkelheit, Workuta durfte er nicht verlassen. Nicht einmal einen Ausweis hatte er. Sicher, sie richteten sich ein, wie es Menschen immer tun. Sie versuchten, ein normales Leben zu führen, soweit es normal sein konnte im Reich des Gulag. Der Posten des Hauptmechanikers verschaffte ihnen eine ungewöhnlich geräumige Werkswohnung. Drei Zimmer, Küche und Toilette innen, das gab es sonst kaum. Die Häuser standen zwischen Fluss und Lagerzaun in einem Karree. Außer ihnen wohnten sechs weitere Familien im Haus, fast alle mit gemeinsamer Küchenbenutzung. Ihre Siedlung, der Rudnik, war zwar durch das Wasser vom Rest der Stadt getrennt, aber Stadt konnte man die Ansammlung von Hütten auf der anderen Flussseite ohnehin nicht nennen.
    Bei der Namenswahl für den Jungen waren sich Lena und Lorenz schnell einig. Ein russischer Großvater namens Pawel, Pawel Alexandrowitsch, und eine deutsche Großmutter Paula, da konnte der Sohn nur Pawel heißen. Pawel, Paul, ein sehr solider Klang in beiden Sprachen. Es war rührend zu sehen, wie der alte Bolschewik, den sie für seine Überzeugung von einem Gefängnis ins nächste gesperrt hatten, das winzige Wesen auf den Armen trug. Er wanderte mit ihm durch die Wohnung, ein altes Kinderlied vor sich hin brummend. All die Jahre Lager, Zwangsarbeit, Misshandlung und Hunger ließen Pawel Alexandrowitsch nicht verbittern.
    Dass mit dem Kindchen das Leben weiterging, dass Tod und NKWD nicht das letzte Wort hatten, das versöhnte ihn selbst mit Lenas Sturheit. Denn alle seine Warnungen, die Tochter möge doch bitte, bitte im Süden bleiben und dort auf seine Rückkehr warten, hatten nicht gefruchtet. Lena machte sich aus dem Donbass auf den Weg nach Workuta. Da war der Krieg noch nicht einmal zu Ende. Daheim in Stalino, wie das alte Jusowka seit den zwanziger Jahren hieß, hatte sie lange auf den Vater gewartet. Vergeblich. Sie hielt nichts mehr in der Stadt – was sollte das für ein Zuhause sein, ohne Vater, ohne Schwester? Nina, die ältere Schwester, hatten die Deutschen geholt. Sie musste eines Tages an einem Sammelpunkt antreten, wurde mit anderen Frauen auf Lastwagen verladen und zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht. So leicht war das, man trieb die Menschen wie Vieh zusammen und verkaufte sie.
    Zwei Postkarten erreichten Lena noch während der Besatzung. Zwischen den Zeilen konnte sie lesen, dass es Nina auf dem Bauernhof in Norddeutschland dreckig ging. Die große Schwester, einmal lebenslustig und stark, wog jetzt kaum noch etwas. Später schickte man sie als Hilfsschwester in ein Lazarett an die Mosel. Da hoffte sie, am Leben zu bleiben … Auch Lena wurde kurz vor dem Abzug der Deutschen zu diesem Sammelpunkt befohlen. Eine Frau kontrollierte die Listen der Zwangsarbeiter; ihr muss das zierliche Mädchen

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