Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
leidgetan haben. So machte sie Lena mit einem entschlossenen Kringel um ein paar Jahre jünger: noch ein Kind, zu schwach für die Arbeit in Deutschland.
Wenige Wochen später war Stalino befreit.
Allen Bitten ihres Vaters zum Trotz packte Lena bald danach ihren Koffer und stieg in den Zug nach Norden. Zu dieser Zeit war Pawel Alexandrowitsch zwar kein «Lagernik» mehr, aber wie die meisten anderen auch nicht frei. Noch tobte der Krieg, und alle, vor allem die «Ehemaligen», mussten dort bleiben, wo man sie eingesperrt hatte. Eines Tages stand nun Lena in dem winzigen Zimmer, das sein und ab sofort auch ihr Zuhause war. Der sonst so ruhige und besonnene Pawel Alexandrowitsch regte sich entsetzlich auf, aber es half nichts. Jetzt galt es, das Mädchen in einer Lagerstadt zu beschützen und für sie eine Arbeit zu finden. Ein Studium kam zu seinem höchsten Bedauern in Workuta nicht in Betracht.
So machte er Lena zwei Angebote. Das erste, es schien ihm das bessere, sie könne als Laborantin bei seinem Freund Professor Stadnikow in die Lehre gehen, einem Akademiemitglied und anerkannte Kapazität auf dem Gebiet fossiler Brennstoffe. Der zweite Vorschlag: Lena lernte technische Zeichnerin bei Aron Borisowitsch Katzer, einem peniblen Mann aus Leningrad, der bei der Verhaftungswelle nach Kirows Tod in die Fänge der Geheimpolizei geraten war. Natürlich kannte er weder Kirow noch irgendwelche Menschen aus dessen Umfeld. Dennoch lautete die Anklage auf Verschwörung. Schon allein dass der Mann Jude war wie Trotzki, galt als Beweis. Zehn Jahre Lager schienen die angemessene Strafe.
Lena zog Lineal und Tuschefeder dem Erlenmeyerkolben vor. Das hatte Folgen. Die Gießerei, in der Pawel nach wie vor arbeitete, gehörte zu den Auftraggebern des Konstruktionsbüros, so wie die mechanischen Werkstätten des Baustoffwerks. Lorenz stand dann wie zufällig, und das immer öfter, am Reißbrett der neuen Mitarbeiterin. Die junge Frau, die nicht wie alle anderen um ihn herum eine Gefangene oder Verbannte war, sondern als «freiwillig angeworbene» Arbeitskraft galt, gefiel ihm. Lorenz war inzwischen 40. Er wusste, wenn er noch einmal so etwas wie ein normales Leben finden wollte, dann musste er sich jetzt entscheiden. Alles andere hieße für immer allein bleiben. Und er entschied sich. Charme, Weltläufigkeit, gute Manieren, all das verfehlte seine Wirkung auf Lena nicht.
So ging das Leben weiter. Neues kam dazu – all den finsteren Prophezeiungen zum Trotz. Wie viele hatten sich zu früh aufgegeben. Wie viele waren nicht nur an der völligen körperlichen Auszehrung, sondern am Erlöschen ihres Willens zerbrochen. Lorenz wollte nicht nur überleben. Er wollte es ihnen allen zeigen. Den Nazis, dem NKWD, allen, die immer und immer wieder danach trachteten, ihn in den Dreck zu drücken, ihn zu zerstören. Ein Kind, eine Frau, eine Familie: Ein deutlicheres Zeichen seines Widerstandes gegen all den Hass, die Gewalt, den Verrat konnte es nicht geben.
Und er wollte weg, wollte endlich nach Hause. So setzte er sich an einem Sonntagnachmittag an den Tisch und legte ein Blatt Papier vor sich hin. Denn wenigstens das wurde ihm jetzt erlaubt, wo er doch ein «Freier» war, wenngleich zweiter Klasse: Briefe zu schreiben und Briefe zu bekommen. Lorenz tunkte die Feder ein:
«Lieber Genosse Pieck,
entschuldige vielmals, dass ich mich nach altem Brauche so unvermittelt an Dich wende. Du wirst Dich wohl kaum an mich erinnern können: Lorenz Lochthofen, Student der Westuniversität in Moskau von 1931 bis 1935. Mai 1935 – nach Beendigung der Universität – wurde ich durch das ZK der KPdSU (B) nach Engels kommandiert, wo ich bis 1937 in der Redaktion ‹Nachrichten› arbeitete. 1937 ging es hinter den Polarkreis. Seit Beendigung des Krieges arbeite ich als Hauptmechaniker in einem Betrieb der Stadt Workuta.»
Bis dahin war es der leichte Teil des Schreibens. Er musste nachdenken, dann schrieb er entschlossen weiter:
«Genosse Pieck – um kurz zu sein: Ich verfolge mit lebhaftem Interesse euren Kampf um die Organisation eines neuen demokratischen Deutschland. Ich möchte und will mit dabei sein und in euren Reihen kämpfen. Ich weiß nicht, auf wen ich mich berufen, an wen ich mich wenden kann. Aber ich hoffe, dass es dort noch Genossen gibt, die mich kennen, besonders aus dem Ruhrgebiet. Wenn Du mir einen Hinweis geben kannst, an wen ich mich wenden muss, um die Möglichkeit zu erhalten, in euren Reihen zu kämpfen, so wäre ich Dir
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