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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Lenin-Pionier. Glauben Sie mir, ich weiß, was das bedeutet. Na ja. Wir haben beschlossen, dass sie ab sofort frei sind.»
    «Frei?!»
    Lorenz wiederholte das Wort «Swobodny» nachdenklich. Diesen Augenblick hatte er sich oft vorzustellen versucht. Wie reagierte man darauf nach all den Jahren der Erniedrigung?
    Wieder frei … Jetzt, wo es ausgesprochen war, fühlte er nichts. Das Leben hatte ihn gelehrt, auch in Momenten des Glücks die Gefühle zu unterdrücken. Gefühle machten angreifbar. Wer sich von Gefühlen leiten ließ, war schon verloren. Am besten, man gab die Gefühle am Lagertor ab. Ein Prinzip des Überlebens.
    «Was heißt das? Frei? »
    Er schaute den Leutnant an. Das russische Wort «Freiheit» hatte natürlich die gleiche Bedeutung wie in der französischen oder in der deutschen Sprache. Frei hieß frei. Man konnte gehen, wohin man wollte. Man konnte leben, wo man wollte. Man musste bei niemandem dafür um Erlaubnis bitten. Nur mit der sowjetischen Ausprägung des russischen Wortes «Freiheit» verhielt es sich eigenartig. Freiheit hieß hier allenfalls Abwesenheit von Stacheldraht. Der Rest wurde unter bürgerliche Dekadenz gefasst. Und frei unter den Bedingungen Workutas war etwas ganz Besonderes.
    Der Leutnant lächelte zurück:
    «Na, Sie wissen schon. Sie sind frei. Natürlich gibt es ein paar kleine Einschränkungen. Sie müssen hier in Workuta bleiben. Der Norden hat ja auch seine schönen Seiten. Nicht wahr? Die Arbeit als Mechaniker macht Ihnen doch Spaß? Die bringt Ihnen ordentlich Rubelchen ein. Und dann wird man sehen.»
    Lorenz lächelte nicht.
    «Was ist das für eine Freiheit? Wenn man den Ort seiner Lagerhaft nicht verlassen kann?»
    «Ach, wissen Sie, man kann auch einen Fisch zweiten Frischegrades essen, wenn man ihn scharf brät und ordentlich mit Knoblauch einreibt. Glauben Sie mir, eine Delikatesse! Da riechen Sie nichts! Nicht einen Hauch! Auch wenn der Stör etwas lange in der Sonne gelegen hat. Immerhin, sie verkaufen auch Wobla dritten Frischegrades. Aber ich selbst habe es noch nicht probiert.»
    «Freiheit zweiten Frischegrades? Meinen Sie damit die Verbannung? Wie heißt es doch in dem entsprechenden Ukas: Ansiedlung auf immer und ewig. Meinen Sie das mit Freiheit?»
    Wenn es nicht um sein Leben gegangen wäre, hätte Lorenz diesem pomadigen Leutnant einfach ins Gesicht gespuckt. Sie hielten ihn hier Jahre fest, ohne gültiges Urteil, nie hatte er einen Richter gesehen. Ihre Willkür kannte keine Grenzen. Von wegen kein Stacheldraht mehr, keine Wachtürme!
    «Lorenz Lorenzowitsch, Sie machen es einem nicht leicht, Ihnen eine gute Nachricht zu überbringen.»
    Der NKWD-Mann wurde ärgerlich:
    «Sie sind frei. Und das mit der ‹Ansiedlung auf ewig›, nehmen Sie das nicht so schwer. Kommt Zeit, kommt Rat. Bedenken Sie doch, Sie sind ein Deutscher. Dass man Sie nach diesem Krieg überhaupt aus der Haft entlässt, das ist doch schon was.»
    «Ich habe den Krieg nicht geführt.»
    «Ja, ja. Ich verstehe das. Aber Sie müssen auch die verstehen, die in jedem Deutschen einen Feind sehen. Die würden an meiner Stelle anders entscheiden. War er selbst nicht dabei, dann war es sein Bruder, war’s der Bruder nicht, dann der Schwager …»
    «Mein Schwager saß als einer der Ersten im KZ!»
    «Nun, dann war’s der Nachbar. Des Nachbars Kinder. Sei’s drum. Sie bekommen Papiere, ist das nichts?»
    «Doch, doch.»
    «Na sehen Sie. Und es gibt noch eine gute Nachricht: ‹Schuhgröße 38›. Verstehen Sie? 38!»
    «38?!»
    «Ja, Paragraph 38! Sie können reisen, wohin Sie wollen. Allerdings nur, wenn Sie immer schön brav nach Workuta zurückkommen. Natürlich ist Moskau oder Leningrad als Aufenthaltsort ausgeschlossen. Aber zur Kur oder in den Urlaub fahren, das geht. Wenn Sie wollen, sogar in den Süden. Nur immer, wie gesagt, immer schön zurückkommen und melden. Sonst gibt’s Ärger. Na, Sie sind ja ein kluger Mann und kennen die Konsequenzen. Ist das auch nichts?»
    Schuhgröße 38. Das war Häftlingsjargon. Die Paragraphen, nach denen man entlassen wurde, lagen im Bereich der Schuhgrößen. Wer die 38 erhielt, konnte zufrieden sein. Lorenz war klar, dass er auf mehr nicht hoffen durfte. Eigentlich war Verbannung «plus» für Deutsche nicht vorgesehen. Ja, selbst die meisten Russen, die frei wurden, bekamen 39 und aufwärts. Das hieß, sie durften nicht näher als auf 101 Kilometer an eine Bezirksstadt heran. Von den großen Metropolen ganz zu schweigen. Wenn sie dort

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