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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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eine Milizpatrouille erwischte, gab’s eine neue Frist, und ab ging’s wieder ins Lager. So gesehen hatte er wirklich Glück.
    Sklavenglück. Nicht das Glück des freien Mannes.
    «Hier ist Ihre Bestätigung.» Der Offizier reichte Lorenz ein Blatt Papier über den Schreibtisch.
    «Gehen Sie mit der Sprawka zur Miliz und lassen Sie sich einen Passport ausstellen. Ich wette, Sie sind eher am Schwarzen Meer als ich. Doch vergessen Sie nie: Immer schön bei der Miliz melden. Damit wir wissen, dass Sie noch da sind.»
    Der Leutnant schüttelte Lorenz zum Abschied enthusiastisch die Hand, als sei er gerade Sieger im sozialistischen Wettbewerb geworden. Lorenz schaute erst ihn und dann die auf und ab schwingenden Hände entgeistert an. Wie beschränkt oder verblendet musste man sein, um zu erwarten, dass die vielen geschundenen Menschen, von denen sich das Lager nährte, am Ende auch noch dankbar wären, wenn man ihnen die Kette, an der sie hingen, etwas lockerte, aber das Stachelhalsband angelegt blieb?
    Für einen Augenblick war Lorenz in seinen Gedanken versunken. Der arme Marx. Wie kamen diese Menschen dazu, zu behaupten, das alles geschehe nach seinem Willen? Vielleicht lag es ja an Russland. Unterentwickelt und fromm. Dass gerade hier das große Experiment seinen Anfang nahm, war sicher ein Versehen der Geschichte. Das tiefgläubige Land hatte den alten Gott abgeschafft und ihn durch die neuen Gottheiten ersetzt. Glaube statt Wissen. Und Stalin war ihr Prophet und der NKWD eine Priesterkaste, die dafür sorgte, dass keiner vom rechten Weg abkam, und immer genug Opferlämmer zur Hand waren.
    Lorenz ging. Und merkte erst draußen, dass er das Blatt fast zerknüllt hatte. Er versuchte, es über dem Knie glatt zu streichen, aber es wurde nicht glatt. Nun, es musste auch so gehen. Natürlich wusste er, dass ein Deutscher in Workuta mehr nicht erwarten konnte. Andere bekamen ihren Wisch und durften doch nur bis zur Stadtgrenze.
     
    Brechend voll. Bei der Miliz drängten sich die Menschen. Was sie alle dort wollten, konnte man schwer ergründen. Und wie immer in Russland hatte von fünf Schaltern einer geöffnet. Das hieß, warten, warten, warten. Als Lorenz endlich an die Reihe kam, taten ihm die Beine und das Kreuz weh. Er schob das Papier, das er vom NKWD-Leutnant erhalten hatte, durch die Öffnung des kleinen Fensters. Barsch nahm eine uniformierte Frau den Zettel, warf einen Blick darauf, fragte, ob er auch Passbilder hätte. Er hatte. Die Frau klemmte die Fotos an das Blatt, schob alles einem Mitarbeiter zu und machte eine kurze Bemerkung, die Lorenz nicht verstand:
    «Wie bitte? Was haben Sie gesagt?»
    «Nichts. Zumindest nichts, was Sie angehen könnte. Ihre Papiere werden bearbeitet. Warten Sie. Der Nächste …»
    Lorenz ging zwei Schritte beiseite, blieb aber so stehen, dass er das Geschehen hinter dem Schalterfenster im Auge behielt und auch die Frau ihn noch sehen konnte. Das schien ihm die sicherste Methode zu sein, um nicht sofort wieder vergessen zu werden. Dennoch dauerte es seine Zeit, bis er endlich seinen Namen, diesmal als «Logofen», rufen hörte.
    Die Frau in der blauen Milizionärbluse, die ihr um einiges zu knapp saß und am Busen, aber noch mehr über dem Bauch spannte, schob missmutig den nagelneuen Passport durch das Fenster. Nachdem er auch die Bescheinigung zurückhatte, bedankte sich Lorenz freundlich. Die schlechte Laune dieses Weibes konnte ihm jetzt egal sein. Dachte er. Auf dem Weg zur Tür blätterte er den Ausweis durch, ein Hochgefühl machte sich breit: Immerhin, du hast jetzt Papiere, das ist doch schon etwas. Aber plötzlich stutzte er. Was war das? In der entsprechenden Rubrik stand statt Paragraph 38 deutlich Paragraph 39. Das war nicht richtig. Er machte auf der Stelle kehrt und schob, nicht ohne zuvor höflich um Erlaubnis gebeten zu haben, den Kopf wieder durch das Schalterfenster.
    «Genossin Milizionärin, hier liegt ein Versehen vor. Statt 39 muss es 38 heißen …»
    «Zeigen Sie her!» Sie riss ihm den Ausweis aus der Hand.
    Lorenz hatte den Eindruck, sie wusste sehr wohl, was da stand.
    «Ich kann keinen Fehler erkennen.»
    Sie schob das nach frischem «Dermantin»-Kunstleder riechende Heftchen verächtlich zurück.
    «Aber natürlich liegt hier ein Fehler vor. In der Sprawka heißt es eindeutig 38. So muss es auch im Ausweis stehen: 38, nicht 39!»
    «Bürger, seien Sie nicht so kleinlich», keifte die Milizionärin. «Was macht das schon, 38 oder 39?»
    Die Frau

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