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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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in Workuta. Kleines Foto: Lena Lochthofen.

Wiederaufrüstung in Deutschland durch den Aufbau der Bundeswehr. Die letzten deutschen Kriegsgefangenen kehren aus Russland heim. Der 20. Parteitag der KPdSU leitet die Entstalinisierung ein. Gründung der NVA in der DDR. Bill Haley stürmt mit «Rock Around The Clock» die Hitparaden. Brecht stirbt in Ostberlin. Die KPD wird in der Bundesrepublik verboten. Die Suez-Krise belastet die internationalen Beziehungen. Russische Panzer schlagen nach Georgien und Polen auch den Aufstand in Ungarn nieder. Erstes kommerzielles AKW geht in Großbritannien ans Netz. Fidel Castro landet mit seinen Guerillas auf Kuba.

1956

I
    Es herrschte leichter Frost. Minus zwanzig Grad, vielleicht etwas weniger. Lorenz war beschwingt auf dem Weg nach Hause und schaute bei Ded rein. So nannten die Kinder Pawel Alexandrowitsch, aber schnell war die Abkürzung für das lange «Deduschka», Großvater, in den allgemeinen Familiengebrauch aufgenommen. Pawel hatte damit vor Jahren angefangen, jetzt plapperte es auch sein sechs Jahre jüngerer Bruder Sergej nach.
    Lorenz und Pawel Alexandrowitsch hatten miteinander Tee getrunken. Es gab einiges zu besprechen. Der erste Parteitag nach dem Tod Stalins war vor einigen Tagen zu Ende gegangen. Ungeheuerliches hörte man. In Moskau sprach der neue starke Mann, Nikita Chruschtschow, offen von Fehlern, ja, er gelobte Besserung. Kaum zu glauben. Lorenz schöpfte Hoffnung. Pawel Alexandrowitsch blieb skeptisch.
    «Ach, wissen Sie, Lorenz», die beiden Männer sprachen sich immer noch mit Sie an, ein Zeichen ihres Respekts und der Distanz zur allgemeinen Duzerei der Parteikader. Daran änderte sich auch nichts, als Lorenz und Pawel Alexandrowitschs Tochter Lena heirateten, als sie die Geburt der beiden Söhne noch enger miteinander verband.
    «Ich kenne doch Nikita», sagte der alte Bolschewik mit einem Anflug von Heiterkeit. «Der stammt aus unserer Gegend, aus dem Donbass. Ein mittelbegabter Spaßvogel. Konnte gut trinken und Gopak tanzen, er schmiss die Beinchen wie kein Zweiter. Der kann mir viel erzählen. Wie heißt es so schön: Was der Zar heute denkt, kriegt das Volk morgen zu spüren. Mal sehen, ob es besser wird.»
    «Aber allein durchs Tanzen wird man ja nicht Parteivorsitzender.»
    «Nein, nein. Da haben Sie recht, Lorenz Lorenzowitsch, wir haben Nikita zur Parteischule nach Kiew geschickt, in der Hoffnung, dass aus ihm doch noch etwas Brauchbares werden könnte. Na ja. Der Antrag ging über meinen Tisch. Und wo sehe ich ihn wieder? In Moskau, im Warmen, bei Väterchen unterm Flügel. Hat sich beizeiten gut untergebracht. Sicher gab es Helfer, sein Freund Koganowitsch zum Beispiel, ich kann mir gut vorstellen, dass der Nikita auf dem Weg ins Politbüro nützlich war. Der kam auch aus unserer Gegend, war beizeiten ein williges Werkzeug Stalins. Vor allem, als sie nach dem Tod Lenins die anderen aus der Spitze umbringen ließen. Da ging Lasar Kaganowitsch dem Georgier fleißig zur Hand. Nun, Dankbarkeit gibt es da oben nicht. Inzwischen hat Nikita seinen Förderer Lasar auch abserviert. Aber immerhin …»
    Pawel Alexandrowitsch machte eine Pause.
    «… immerhin, er hat ihn nicht erschießen lassen. Wenn Sie so wollen», er sah Lorenz an, «ein Fortschritt.»
    Wieder machte er eine lange Pause.
    «Wir tun gut daran, ihm nicht zu trauen.»
    «Hat Koganowitsch nicht die Hungersnot in der Ukraine mit zu verantworten?»
    «Ja, die haben den Bauern den letzten Scheffel Weizen aus der Scheune geholt, jeden an die Wand gestellt, der nur ein Pud für die Aussaat zurückbehalten hat. Grausam und dumm. Aber Stalin hat’s gefallen. Koganowitsch und Chruschtschow, ich kenne die Brüder und kann mir denken, wie sie im Kreml aufgestiegen sind. Erst hält einer die Hände drunter, und der andere klettert hoch. Dann zieht er von oben den Kumpanen nach. Dass ausgerechnet Nikita auf Stalin als Erster Sekretär der Partei folgt, beweist nur eines: Heute ist alles möglich.»
    Pawel Alexandrowitsch lachte. Das Lachen ging in einen Reizhusten über. Die vielen Jahre im Norden, die harte Arbeit in der Gießerei, das ging nicht spurlos an ihm vorüber. Manchmal hatte Lorenz Angst um den Alten.
    «Nikita ist ein Muschik. Schlau, aber nicht klug. Es passt dazu, dass er und sein Gefolge von den Schweinereien plötzlich nichts gewusst haben wollen. Das glaubt ihnen doch kein Mensch. Gekuscht haben sie und mitgemacht. Und wenn der nächste starke Mann kommt, dann werden sie

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