Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
sich wieder abducken.»
Pawel Alexandrowitsch rührte seinen Tee um. Lorenz schwieg erst eine Weile, als könnte er die passenden Worte nicht finden. Man sah ihm an, er wollte gerne an eine Veränderung zum Guten glauben:
«Sicher haben Sie recht. Aber wer mit den Wölfen leben will, muss wie ein Wolf heulen. Nikita war ein guter Heuler. Doch nun scheint sich etwas zu bewegen. Einer muss den Anfang machen. Vielleicht hat sich ja in seinem tiefsten Inneren noch etwas Anstand verloren? Schrecklich, wenn Berija, dieser Henker, an der Macht geblieben wäre. Von Tauwetter dürften wir dann nur träumen.»
Lorenz überlegte, dann fragte er mit gedämpfter Stimme:
«Sie haben von dem Geheimbericht auf dem Parteitag gehört?»
«Die Kunde ist noch frisch, allein mir fehlt der Glaube. Ich traue der Sache nicht. Erzählen können die mir viel. Die wissen schon, warum sie den Bericht nicht veröffentlichen. Wenn das Volk erfährt, wie viele Millionen an Hunger starben oder umgebracht wurden, dann Gnade ihnen Gott. Die können so einen Bericht, wenn in ihm tatsächlich die ganze Wahrheit stehen sollte, was ich übrigens bezweifle, nicht in die Zeitung setzen.»
Er trank von seinem randvollen Teeglas ab.
«Dann wäre Nikita selber dran.»
Lorenz nickte nachdenklich. Der NKWD hieß seit einiger Zeit KGB. Doch nichts deutete darauf hin, dass sich ernsthaft etwas geändert hätte. Das geschah ja auch nicht, als die GPU zum NKWD wurde. In Workuta standen die Stacheldrahtzäune fest wie Mauern, alles schien beim Alten, auch nachdem sie Berija erschossen hatten. Der KGB-Chef trug in der entscheidenden Sitzung des Politbüros eine Pistole in seiner Aktentasche, schaffte es aber nicht, rechtzeitig zu ziehen. Da war er plötzlich selbst das, was er Tausenden Menschen andichten ließ: ein Agent des Westens. Und doch hatte Lorenz das Gefühl, die Umklammerung ließ langsam nach.
«Palmiro Togliatti hat von ‹Entartung› gesprochen. Sie haben es im Radio gebracht. Er war dabei, als Nikita seinen Vortrag hielt.»
Pawel Alexandrowitsch schaute Lorenz fragend an. Dass ein Moskauer Sender so etwas ausgestrahlt haben sollte, schien ihm unwahrscheinlich. Lorenz verstand seinen Blick:
«Na ja, nicht im Prijomnik. Ich habe mir da was gebaut, womit man auch deutsche Sender hören kann. Die sind zwar ständig dabei, den Empfang zu stören; es rauscht wie verrückt, aber nach Mitternacht kann man doch einiges verstehen.»
«Entartung? Das ist ein passendes Wort. Hatte das nicht irgendwas mit den Faschisten zu tun? Nun, eine Entartung war das hier in Workuta allemal. Im Grunde ist es das ja immer noch. Auch wenn die Menschen nicht mehr in Zelten schlafen. Sie bringen immer noch genug um.»
So kreiste das Gespräch um die neue Spitze im Kreml, die Bereitschaft, wirklich einen Strich unter die Stalin-Ära zu ziehen und die Chancen für einen Neuanfang.
«Gestern waren sie noch alle glühende Stalinisten, und jetzt sind sie bereits Chruschtschowianer. Das geht ganz schön flott.»
«So sind die Menschen, Pawel Alexandrowitsch. Ein Denkmal vom Sockel stürzen, das ist schnell erledigt. Den Stalinismus als Anhäufung der kruden Glaubenssätze haben sie bald vergessen. Das Stalintum, das wird lange weiter leben. Menschen einsperren, Bücher verbieten, keine andere Meinung dulden, die können gar nicht anders. Wo Freiheit nicht zählt, hat es die Wahrheit schwer. Auch wenn es Chruschtschow selbst vielleicht anders will.»
«Da ist was dran. In den KGB-Kellern geht es nicht anders zu als früher. Und solange das so ist, so lange ist den Brüdern nicht zu trauen. Wie gesagt, auch Chruschtschow nicht.»
Pawel Alexandrowitsch stand krächzend auf und ging zum Ofen, um einen Brocken Steinkohle hineinzuwerfen. Glutfunken sprühten in das kleine Zimmer.
Es war fast dunkel, als sich Lorenz auf den Heimweg machte, wieder einmal hin und her gerissen zwischen Aufbruchstimmung und tiefem Misstrauen. Wie oft hatte er sich schon sicher geglaubt, und dann ging doch alles von neuem los. Kriegsende, Stalins Tod, immer hatte er gehofft, jetzt ändert sich alles, aber er saß immer noch in Workuta. Brachten die Ankündigungen auf dem Parteitag jetzt die Wende? Wer konnte das schon wissen.
Als er an seiner Werkstatt vorbeikam, sah er mit Verwunderung, dass in einem der Fenster noch Licht brannte. Was sollte das bedeuten? Eigentlich konnte dort niemand sein. Er hatte die Werkstatt als Letzter verlassen und abgeschlossen. Sollte er das Licht im Kontor vergessen
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