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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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eine Ausnahme zu machen, schon morgen konnte er sich anders entscheiden.
    Die Miliz hatte noch geöffnet. Die Schlange mit den Wartenden war noch länger, dementsprechend gereizt die Stimmung. Dazu die Frau hinter dem Schalter, die inzwischen auf Nachfragen nur noch hysterisch reagierte. Einfach an den Wartenden vorbeizugehen, schien Lorenz nicht angeraten. Dennoch machte er einen verzweifelten Versuch, das Prozedere abzukürzen.
    «Genossen, ich will mich nicht vordrängeln, aber ich habe hier schon einmal zwei Stunden angestanden.»
    «Na und? Wir stehen schon drei.»
    «Die haben einen Fehler gemacht.»
    «Das wird nicht der letzte sein.»
    «Aber versteht doch: Ich möchte nur eine Korrektur.»
    «Erst heißt’s, nur eine Korrektur, dann dauert es ewig.»
    «Glaubt mir, es geht schnell. Darf ich!?»
    Die Masse der Wartenden reagierte unentschlossen, Lorenz machte einen Schritt zum Fenster und schob die Papiere hinein. Ein gellender Schrei:
    «Hier ist schon wieder der Deutsche!»
    Die Frau hinter dem Schalterfenster warf ihren Federhalter weg, die Tinte spritzte in alle Richtungen. Sie sprang auf und ging in den Teil des Raums, den man nicht einsehen konnte. An ihrer Stelle erschien ein Milizionär, offenbar ihr Vorgesetzter.
    «Was ist hier los, Bürger?», herrschte er Lorenz an. «Warum lassen Sie die Frau nicht in Ruhe arbeiten?»
    «Lasse ich gerne, wenn sie nur so freundlich wäre, den kleinen Fehler, die Ungenauigkeit, die sich beim Ausstellen meines Passports eingeschlichen hat, zu korrigieren.»
    «Was für ein Fehler?»
    Lorenz wies auf die Stelle:
    «Hier muss es 38 und nicht 39 heißen!»
    Der Miliz-Chef musterte die Seite:
    «Alles richtig. Paragraph 38 gibt es für Deutsche nicht. Da ist die Richtlinie eindeutig …»
    «Hier, lesen Sie, was Petritski geschrieben hat. Oder wollen Sie es besser wissen als der NKWD-Natschalnik?»
    Der Milizionär stutzte, als er den Namen Petritskis hörte.
    «Sofort erledigen … Der Teufel soll sie holen!»
    Er schaute Lorenz an, dann wieder das Blatt. Man sah seine Verärgerung; natürlich wusste er, dass offene Kritik am NKWD auch für einen Milizionär nicht ungefährlich war.
    «Einen Tag wollen sie es so, den anderen heißt es, Kommando zurück. Na, mir soll es egal sein. Alla, mach die Sache fertig.»
    Es vergingen keine zehn Minuten, dann flog sein Ausweis aus dem Fensterchen und rutschte weit über das Brett. Mit einem Satz war Lorenz zur Stelle. Er blätterte die Seiten durch. Tatsächlich, statt einer 39 stand die 38 da. Aber wie sah das aus? Unglaublich. Lorenz schlug den Pass auf die Holztheke. Die 9 hatte man mit einer Rasierklinge herausgekratzt, so war die Tusche bei der 8 auf dem dünnen Papier verlaufen. Selbst ein Laie erkannte, dass diese Stelle manipuliert war.
    «Uch, Bljad», entfuhr es Lorenz.
    Auch wenn «Hure» normalerweise nicht zu seinem Wortschatz gehörte, er musste sich Luft machen. Da er sich nicht noch einmal an der Schlange vorbei zum Schalterfenster wagte, entschied er sich für den Hintereingang. Die Tür sprang auf, der Miliz-Chef stand vor ihm.
    «Sie? Sie haben doch alles. Was wollen Sie noch?»
    «Das ist kein Passport, sondern ein Dreck. Sehen Sie, jeder wird denken, ich habe ihn gefälscht! Und das stellt die Miliz aus?!»
    Der Uniformierte schaute sich die Seite an. Auch er hatte so etwas offensichtlich noch nicht gesehen.
    «Alla? Ah? Allotschka? Was hast du dir dabei gedacht? Wir sind doch hier nicht auf dem Basar. Wir sind eine Behörde. Die muss exakt arbeiten.»
    Aus der Tiefe des Raums konnte man wieder das Kreischen der Mitarbeiterin hören:
    «Wladimir Petrowitsch, was sollte ich tun? Ich hatte doch kein weiteres Passbild. Sonst hätte ich ihm natürlich ein neues Dokument ausgestellt.»
    «Bürger, Sie hören, es hapert am Passbild. Da müssen Sie noch mal kommen.»
    Doch Lorenz war fest entschlossen, hier und heute seinen Passport mitzunehmen.
    «Sie haben noch ein Foto von mir. Ich habe zwei abgegeben. Das zweite ist bei den Unterlagen. Nehmen Sie das.»
    Der Milizionär schaute ihn traurig an. Diese Art von Kunden liebte er. Ärger, nichts als Ärger. Dazu die schlechte Laune Allas. Er bedeutete Lorenz, auf dem Gang zu warten. Endlich ging die Tür auf, und Lorenz erhielt seinen Passport. Er war ein fast freier Mann.

Das Jahr 1956:

    Großes Foto: Urlaub auf der Krim. Von rechts nach links: Lena, Pawel und Lorenz Lochthofen. Eine Bekannte hält Sergej auf dem Arm. Mittleres Foto: Lena und Lorenz Lochthofen

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