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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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war sich ihrer Position bewusst, sie zeigte keinerlei Bereitschaft, den Fehler zu korrigieren.
    «Wenn es eine Kleinigkeit ist», Lorenz blieb hartnäckig, obwohl die Schlange der Wartenden schon zu murren begann, «dann schreiben Sie es korrekt auf, und ich gehe sofort.»
    «Das ist korrekt. Und wenn Sie es genau wissen wollen: Für einen Deutschen gibt es keinen Paragraph 38. Die Bestimmungen der Amnestie gelten für dieses Völkchen nicht.»
    Das ganze Büro lachte. Außer der Frau am Schalter und ihrem Gegenüber saßen im Hintergrund des Raums offensichtlich noch weitere Mitarbeiter.
    «Bürger Deutscher, halten Sie die Menschen nicht auf. Es wollen heute auch noch andere drankommen.»
    Sie hob ihren ausladenden Hintern vom Stuhl, sah zum Schalterfenster hinaus und rief fröhlich:
    «Der Nächste!»
    Da stand Lorenz nun. Bebend vor Wut. So war das, die hatten die Macht, die konnten verfahren, wie sie wollten. Aus Faulheit, Boshaftigkeit, Missgunst. Lorenz musste nicht nach Worten suchen, ihm fielen noch ganz andere ein. Aber nicht mit ihm. Er würde sich das nicht bieten lassen. Im Gespräch mit dem Leutnant hatte er gerade noch über die Ungerechtigkeit des Paragraphen 38 geschimpft, und jetzt sollte er nicht einmal den bekommen. Nein, der Tag war noch nicht zu Ende. Er warf die Tür zu und machte sich erneut auf den Weg ins «schlaue Häuschen».
    Doch weiter als ins Vorzimmer kam er nicht. Dort saß inzwischen ein Sergeant auf der Ecke eines Schreibtischs, die Schirmmütze lässig nach hinten geschoben, und unterhielt die beiden Sekretärinnen. Die kicherten gerade, als Lorenz in den Raum trat. Auf seine Begrüßung reagierten sie so wenig wie auf die Frage, ob Leutnant Petritski – den Namen hatte er draußen aufgeschnappt – zu sprechen sei. Stattdessen drehte sich der Sergeant unwillig um und schaute den Fragenden ärgerlich an.
    «Hier ist geschlossen, das sehen Sie doch! Kommen Sie morgen wieder.»
    Er ließ keinen Zweifel, dass für ihn das Gespräch damit beendet sei, und wandte sich wieder den Frauen zu:
    «Wo waren wir stehengeblieben?»
    Doch Lorenz war nicht bereit, sich so schnell geschlagen zu geben. Womöglich würde am nächsten Tag schon niemand mehr wissen, ob der oder ein anderer Paragraph richtig war. Was in der Konsequenz bedeutete, dass er auch in den kommenden Jahren Workuta nicht verlassen dürfte.
    «Wenn der Genosse Leutnant nicht da ist, dann schauen Sie auf die Papiere. Man hat mir einen falschen Paragraphen in das Dokument geschrieben, und die Miliz will es nicht korrigieren.»
    Lorenz hielt dem Sergeanten Ausweis und Bescheinigung hin. Der kam nicht umhin, sich wieder umzudrehen.
    «Ob 38 oder 39 – was macht das schon aus?»
    Lorenz fiel es immer schwerer, sich zu beherrschen.
    «Für mich sehr viel!»
    «Na, wenn’s weiter nichts ist …»
    Der Sergeant schaute zu den beiden Frauen, und als spräche er nur mit ihnen, nicht mit Lorenz, grinste er:
    «Den Deutschen steht die 38 gar nicht zu. Da gibt es sogar einen Ukas der Regierung. Also gehen Sie, bevor wir uns die Sache noch einmal anders überlegen. Ein besseres Papier kriegen Sie nicht.»
    «Doch, bekommt er!»
    Von allen unbemerkt, hatte der Leutnant den Raum betreten.
    «Pankin, hast du nichts anderes zu tun, als Mascha und Olga von der Arbeit abzuhalten? Ich hätte da etwas für dich. Diese Depesche muss zum 4. Schacht. Hier, nimm und ab.»
    Petritski schob dem Sergeanten einen Umschlag zu. Man sah es ihm an, die Sache mit dem Passport ärgerte ihn weit weniger als dieser Bursche, der es wagte, in seinem Vorzimmer herumzulungern und seinen Sekretärinnen schöne Augen zu machen.
    «Aber Genosse Leutnant, bis zum 4. Schacht ist es ein langer Marsch, und es ist längst Nachmittag!»
    «Ich weiß, wie spät es ist. Und wenn du dich nicht sofort auf den Weg machst, hat die Kantine geschlossen, bis du zurück bist. An deiner Stelle würde ich mich beeilen.»
    Der Sergeant warf einen zornigen Blick in die Runde und verschwand. Petritski nahm Lorenz die Bescheinigung aus der Hand, griff den Federhalter und schmierte quer über das Papier: «Überprüft. Sofort erledigen. Petritski». Lorenz steckte den Wisch ein, bedankte sich und eilte davon. Er musste schnellstens zur Miliz, hoffentlich war der Schalter noch geöffnet und die Schlange nicht mehr so lang. Dass es den vergleichsweise milden Paragraphen 38 für Deutsche praktisch nicht gab, wusste er nun. Und was auch immer den NKWD-Offizier dazu gebracht hatte, für ihn

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