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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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haben? Nein, ausgeschlossen. In solchen Dingen war er korrekt und verlangte das auch von den anderen.
    Er rüttelte an der Tür, merkwürdig, sie sprang auf. Er trat ein und sah mit Verwunderung, dass in seinem Büro Sascha Bauer und ein fremder Mann saßen. Sascha auf einem Hocker, der Unbekannte auf dem einzigen Stuhl mit Lehne. Sein Platz. Dass Sascha, den er von der Bahn abgeworben hatte, um diese Zeit etwas in der Werkstatt zu tun hatte, kam vor. Er hatte einen eigenen Schlüssel. Dass er sich mit einem Fremden hier im Kontor traf, war ungewöhnlich.
    Der Gast, ein hagerer Mann mittlerer Größe in gutsitzendem Anzug, hatte seinen Wollmantel quer über den Tisch gelegt. Er selbst saß ungezwungen, ja auffällig selbstsicher auf dem Stuhl und sah mit Interesse Lorenz entgegen. Sicher stammte der Stoff für den Anzug aus dem Sortiment der «amerikanischen Geschenke», ging es Lorenz durch den Kopf. Im Überschwang des gemeinsamen Sieges über Hitler-Deutschland hatten die Amerikaner vielerlei Dinge nach Russland geschickt, die den Alltag der Menschen in dem zerstörten Land etwas aufhellten. Dosen mit Corned Beef, Erdnussbutter, Tarzan-Filme und Kleidung, einschließlich ganzer Ballen Stoffe, wie man sie in Moskau, geschweige denn in Workuta, nicht kannte. Dass von all der Pracht sogar etwas im Norden landete, wunderte die Menschen mindestens genauso wie die Tatsache, dass es so etwas überhaupt in dieser Welt gab. «Amerikanische Geschenke» wurden zum Inbegriff von Schick und Eleganz für eine ganze Generation.
    Lorenz blickte von dem Unbekannten zu Sascha, der verlegen schien. Wie ein Schüler, den der Lehrer gerade beim Abschreiben erwischt hatte.
    «Sascha, was ist passiert?», fragte Lorenz, während er dem Unbekannten zur Begrüßung zunickte.
    «Alles bestens, Lorenz. Aber ich weiß nicht, kennt ihr euch? Das ist Alexander Lwow.» Sascha wies mit höflicher Handbewegung auf seinen Gesprächspartner.
    Lwow? Lorenz fragte sich, ob das tatsächlich «der Lwow» sein konnte. Den Namen kannte in Workuta jeder. Er war einer der drei wichtigsten Bosse der Unterwelt. Ein Mann mit Manieren und als Ingenieur ein passabler Fachmann. Offiziell arbeitete er als Bereichsleiter im Kraftwerk. Doch das füllte ihn nicht aus. Es gab keinen größeren Einbruch, keinen Mord in der Stadt, bei dem er nicht die Fäden zog. Lwow war der Kopf der Ganoven, gescheit und belesen. Aber mit einer durch und durch verkommenen Intelligenz.
    Der Gast erhob sich und grüßte höflich, bat, dass er sich doch zu ihnen setze, als sei er und nicht Lorenz der Chef in diesem Kontor. Erst jetzt fiel Lorenz auf, dass auf dem Tisch eine Flasche Wodka stand und zwei Gläser bereits gut gefüllt waren.
    «Ich weiß, Hauptmechaniker, Sie sind der Herr in diesem Reich, und es steht mir nicht zu, Einladungen auszusprechen. Aber wir haben hier eine kleine Sache zu begießen, ich würde mich sehr freuen, wenn wir das in Ihrer Gesellschaft tun könnten. Sascha hat uns im Heizwerk ausgeholfen, ich bin gekommen, mich zu bedanken.»
    Lorenz willigte ein. Es war besser, mit Lwow keinen Streit zu suchen, auch wenn er es immer noch befremdlich fand, dass hier hinter seinem Rücken ein Gelage abgehalten wurde. Doch die Neugier überwog. War dieser Lwow tatsächlich so mächtig oder nur ein Produkt der üblichen Gerüchte und Phantasien des Lagers? Es kam auf einen Test an. An jenem Tag hatte im Betrieb eine Parteiversammlung stattgefunden, man hörte, es sei einiges aus dem geheimen Chruschtschow-Bericht verlesen worden. Selbstverständlich nicht der Wortlaut, sondern gefiltert und geglättet. Aber immerhin. Lorenz durfte als Nichtparteimitglied an der Versammlung nicht teilnehmen. Und doch interessierte ihn die Sache mehr als die meisten Genossen. So lenkte er das Gespräch auf dieses Thema.
    «Und das ist wirklich wichtig, was da in diesem Bericht steht?», fragte Lwow.
    Der Mann der Unterwelt fand es merkwürdig, dass sich jemand in Workuta mit dem politischen Kram befasste.
    «Für mich schon», erwiderte Lorenz. «Würde das alles gerne selbst lesen.» Er schaute Lwow direkt an und lächelte. «Aber machen Sie sich keine Gedanken, ich weiß, da ist kein Herankommen. Die Exemplare sind bestimmt nummeriert, sicher kriegt nur die oberste Nomenklatura in Moskau einen Durchschlag in die Hand.»
    «Würden Sie sich den Bericht etwas kosten lassen?» In Lwow schien der Jagdinstinkt zu erwachen.
    «Na, ich denke schon. Ein paar hundert Rubel wäre er mir wert. Aber

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