Schwarzes Prisma
herausfand, dass Gavin überhaupt nicht Gavin war? Sie könnte entscheiden, dass er de facto das Prisma war und dass das genügte. Oder sie könnte entscheiden, dass er eine Bedrohung für das echte Prisma darstellte. Oder er könnte die Schwarze Garde in zwei miteinander streitende Lager spalten. Ein angenehmer Gedanke: ein Haufen hochqualifizierter Kriegswandler, die versuchten, einander zu vernichten. Das war es, was dies notwendig machte. Die Schwarzgardisten mussten ein ums andere Mal gelehrt werden, mit den Krümeln zufrieden zu sein, die Gavin fallen ließ: Ihr dürft mich beschützen, wenn Ihr mir von ganzem Herzen dient, und ich werde Euch dieses Privileg entziehen, wann immer es mir gefällt, aus jedem Grund oder ganz ohne Grund.
Zuerst, vor Jahren, hatte Hauptmann Speer diejenigen Schwarzgardisten bestraft, die es zugelassen hatten, dass Gavin ihnen entwischte. Als das nicht funktioniert hatte, hatte er die Bestrafung öffentlich gemacht und die Schwarzgardisten wegen etwas beschämt, das nicht ihre Schuld gewesen war. Gavin hatte sich schrecklich gefühlt und sich nicht im Mindesten geändert. Hauptmann Speer hatte die Strafen erhöht und mehrere Männer öffentlich auspeitschen lassen, darunter den jungen Eisenfaust. Gavin hatte mit einem Gähnen reagiert und indem er einen Monat lang keinen Schwarzgardisten in seine Nähe ließ. Dann war er über überfüllte Märkte spaziert und hatte gefesselte und geknebelte Schwarzgardisten zurückgelassen, die Hauptmann Speer geschickt hatte, und er hatte es kurz nach dem Krieg getan, als es etliche Männer gab, die ihn mit Freuden getötet hätten.
Als es schließlich einen Mordanschlag gegeben hatte und kein Schwarzgardist anwesend gewesen war, hatte Hauptmann Speer die sechs Schwarzgardisten, die Gavin beschützen sollten, ihres Amtes enthoben. Die Weiße war schließlich eingeschritten und hatte stattdessen Hauptmann Speer seines Amtes enthoben. Gavin hatte kein Bedauern für den Mann gehabt. Sobald er begriffen hatte, dass es nicht funktionieren würde, Gavins Schuldgefühle gegen ihn zu benutzen, hätte er etwas anderes versuchen sollen. Ein Mann, der nicht in der Lage war, seine Taktiken den Gegebenheiten anzupassen, sollte überhaupt nicht das Kommando über die Schwarze Wache haben.
Mit diesem Schritt hatte Gavin sich keine Freunde gemacht, aber am Ende hatte er das Sagen gehabt. Außerdem brauchte er keine Freunde. Die beiden Schwarzgardisten am Aufzug sahen einander an, als er näher kam. Die Frau auf der linken Seite war klein, aber so stämmig wie ein Bulle. Sie sagte: »Hoher Lord Prisma, mir fällt auf, dass Ihr keine Eskorte habt. Darf ich mich Euch anschließen?«
Gavin grinste. »Da Ihr so nett gefragt habt, ja«, antwortete er.
Sie öffneten den Aufzug für ihn, und binnen Sekunden befand er sich im Stockwerk unter dem seinen und dem der Weißen. Die wachhabenden Schwarzgardisten blinzelten angesichts seiner Ein-Frau-Eskorte. Zweifellos kannten sie den Wachplan und wussten, dass diese Schwarzgardistin eigentlich keinen Prismendienst hatte, noch sollte das Prisma von nur einem einzigen Schwarzgardisten bewacht werden.
»Hoher Lord Prisma«, sagte einer von ihnen, ein hochgewachsener Rot/Orange-Bichromat. Er war nur zwanzig Jahre alt und daher ziemlich talentiert. »Darf ich Euch begleiten?«
»Vielen Dank, aber nein«, erwiderte Gavin. »Vor dem, was hier auf mich wartet, könnt Ihr mich nicht beschützen.«
Gavin hatte Kip erklärt, dass die Weiße versuchte, die Macht des Prismas auszugleichen, aber es gefiel ihm nicht besonders, wenn sie es tat.
Er trat in das Ratszimmer. Die Farben saßen ungeordnet am Tisch. Bei förmlichen Ereignissen saßen sie in einer bestimmten Ordnung rund um den Tisch: Infrarot, Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Ultraviolett, Schwarz, Prisma, Weiß. Bei Versammlungen wie dieser war jedoch der Sog, neben Freunden zu sitzen, oder die Verlockung, einen der bequemeren Stühle zu erobern, schwerwiegender als die natürliche Neigung, jedes Mal an der gleichen Stelle zu sitzen. Gavin suchte sich den letzten freien Platz, zwischen der Ultravioletten, einer hochgewachsenen, nur aus Haut und Knochen bestehenden, kohlschwarzen Parianerin namens Sadah, und dem sanften Ruthgari mit der helleren Haut und dem perlenbesetzten Bart, Klytos Blau.
Gavin hatte Kip ferner erklärt, dass jede Farbe ein Land repräsentierte, und das entsprach auch im Wesentlichen der Wahrheit. Jeder Satrap oder jede Satrapa ernannte eine Farbe. Es
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