Schwarzes Prisma
Sklavin hatte tragen sehen. Die Sklavin eines Edelmanns?
Die Sklavin reichte Liv einen Brief. »Herrin«, sagte sie. »Von dem Hohen Lord Prisma.«
Liv Danavis starrte den Brief an; sie fühlte sich dumm und desorientiert. Auf dem Papier stand: »Bitte, findet Euch zu dem frühesten Euch gelegenen Zeitpunkt bei mir ein.« Ihr Herz sprang ihr in die Kehle. Ein Ruf des Prismas. Das also war es. Der Anfang der Begleichung ihrer Schuld bei Gavin Guile. Sie narrte sich nicht mit der Hoffnung, dass es hier auch enden würde. Wenn man in der Schuld eines Luxlords stand, tat man es für alle Zeit.
Sie hatte nur nicht damit gerechnet, dass er schon so bald nach ihr fragen würde.
Seltsamerweise war ihr erster Gedanke: Was trägt man zu einer Audienz beim Prisma? Liv achtete normalerweise nicht besonders auf die Wahl ihrer Kleidung. Vielleicht lag das daran, dass man, wenn man nur wenige Kleider zum Wechseln besaß, anzog, was sauber war, und die Hoffnung aufgab, jemals etwas Modisches zu tragen. Das hatte sich jüngst natürlich geändert. Gavin hatte befohlen, dass sie im gleichen Stil wie ein ruthgarischer Bichromat unterhalten werden sollte, und das bedeutete jede Menge Kleider, einige Juwelen und diese riesige Wohnung – die etwa fünfmal größer war als die, in der sie die letzten drei Jahre gelebt hatte. Und obwohl sie kein Geld haben mochte, besaß sie jetzt Schminke. Jetzt hatte sie Wahlmöglichkeiten, und sie war sich nicht sicher, ob es ihr gefiel. Bei der Vorstellung, sich in ein zimperliches Mädchen wie Ana zu verwandeln, drehte sich Liv der Magen um.
Die Sklavin stand noch immer an der Tür und wartete mit der freundlichen, neutralen Miene einer Frau, die die Ahnungslosigkeit einer höhergestellten Person ignorierte, auf ihre Entlassung.
»Verzeih mir, Caleen«, sagte Liv, »aber würdest du mir helfen?« Liv war immer verlegen, wenn es um den Umgang mit Sklaven ging. Niemand in Rekton war reich genug gewesen, um sich einen leisten zu können, und die wenigen Sklaven, die mit den Karawanen durch die Stadt kamen, wurden genauso behandelt wie andere Diener. In der Chromeria waren die Dinge förmlicher, und die meisten anderen Schüler hatten von Kindesbeinen an Sklaven gehabt oder waren zumindest in ihrer Nähe aufgewachsen, daher hatte Liv immer das Gefühl, als wüssten alle anderen, was zu tun war, während sie keinen blassen Schimmer hatte. Sie fand es immer noch höchst seltsam, eine Frau, die zehn Jahre älter war als sie, mit dem verniedlichenden »Caleen« anzusprechen.
Natürlich würde Liv sich jetzt, da sie eine Bichromatin war, schnell daran gewöhnen müssen, oder sie würde noch häufiger als gewöhnlich wie eine Idiotin dastehen.
Die Sklavin zog eine Augenbraue hoch, wie jede Achtundzwanzigjährige es einer Siebzehnjährigen gegenüber tun würde, die sich töricht benahm.
»Ich weiß nicht, was ich anziehen soll«, sprudelte Liv hervor. »Ich weiß nicht einmal, was ›zu dem frühesten Euch gelegenen Zeitpunkt‹ bedeutet. Bedeutet das wirklich dann, wenn es mir gelegen kommt, oder bedeutet es, dass ich auf der Stelle kommen soll, selbst wenn ich nur ein Handtuch trüge?«
»Ihr könnt Euch ein paar Minuten Zeit nehmen, um Euch anständig zu kleiden«, sagte die Sklavin.
Liv stand wie gelähmt da. War das, was sie gerade trug, geziemend?
»Die meisten Frauen, die zum Prisma gerufen werden, tragen etwas … Eleganteres«, bemerkte die Sklavin mit Blick auf Livs schlichten Rock und Bluse.
Dann vielleicht das maßgeschneiderte blaue Kleid. Oder dieses merkwürdige ilytanische Etuikleid aus schwarzer Seide. Aber das war eher ein Abendkleid, nicht wahr? Oder sollte sie das schockierend kurze Kleid tragen … Liv zog die Nase kraus. Etwas an der Erklärung der Sklavin machte sie nervös. Sie konnte sich durchaus eine Prozession schöner Frauen vorstellen, die draußen vor der Tür des Prismas Schlange standen. Liv hatte niemals Gerüchte darüber gehört, wen das Prisma in sein Bett holte, aber sie verkehrte auch nicht gerade in den Kreisen, in denen deftiger Tratsch getauscht wurde, und gewiss konnte sie sich mehr als nur ein paar Mädchen vorstellen, die bereit waren, sich zu kleiden oder zu entkleiden, wie immer das Prisma es wünschte. Neben dem Umstand, dass er im Wesentlichen das Zentrum des Universums darstellte, war er attraktiv, befehlsgewohnt, geistreich, klug, reich, jung und unverheiratet.
Wer immer ihre Schubladen mit Schminke vollgepackt hatte, hatte größtenteils
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