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Schwarzes Prisma

Schwarzes Prisma

Titel: Schwarzes Prisma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brent Weeks
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durchzuhalten, und ihn ganz allgemein behandelten, als sei er der Mittelpunkt der Welt. Es war ziemlich berauschend für einen jungen Wandler, und so sollte es auch sein. Grinsend ging Gavin mit Mistress Varidos auf den Tisch des Prüfers zu. Sie blieben direkt vor dem steinernen Tisch stehen. Ein schwarzes, mit Gold durchwirktes Seidentuch war über einem Loch in der Mitte des Tisches ausgebreitet. Unter dem Tuch steckte der Prüfstein in dem Loch. Gavin versuchte sich daran zu erinnern, wie genau er positioniert war. Er würde nur einen Versuch haben. »Was war die Unregelmäßigkeit?«, fragte er. Das schwarze Tuch schirmte den Prüfstein von allem äußeren Licht ab.
    Die alte Frau stieß langsam den Atem aus. »Nach ungefähr drei Minuten und dreißig Sekunden hat er das Seil hinausgeworfen. Bevor ich sie aufhalten konnte, hat eine der Frauen es ihm wieder in die Hand gedrückt.«
    »Macht Ihr Witze?«, fragte Gavin.
    »Sie schicken die Schönen für die Prüfungen her. Die Hälfte von ihnen hat kaum genug Hirn, um sich an ihren Text zu erinnern, geschweige, um sich an einige der obskureren Regeln zu erinnern, die Situationen betreffen, die seit Menschengedenken nicht mehr vorgekommen sind. Nicht einmal Dazen hat das Seil weggeworfen.«
    »Welche von ihnen war das?«
    »Die Grüne.«
    Natürlich war es die Grüne gewesen. Wild, unberechenbar, erzürnt über die leiseste Einschränkung. »Holt sie her!«
    Die grüne Prüferin sah den Wink der Mistress und kam herbei. Alle Prüferinnen waren schön, und wenn eine helle Haut auf dem Schlachtfeld ein Hindernis war, so wurde sie für diese und einige andere Zeremonien bevorzugt. Die visuelle Wirkung eines Mannes oder einer Frau, deren Haut blau, grün oder rot war, war umso weniger spektakulär, je dunkler die Haut von Natur aus war. Selbst die Parianer wählten Landsleute von der Küste oder aus dem Tiefland oder Mischlinge, um sie bei dieser Zeremonie zu repräsentieren. Diese Frau war eine Ruthgari und selbst für ihr Volk recht hellhäutig. Sie bewegte sich mit der mühelosen Anmut einer Tänzerin. Ihre dünne grüne Robe, übergestreift während der Zeremonie, damit alle Prüfer in ihre Farben gekleidet waren, wenn der Bittsteller auftauchte – was vielleicht nur zehn oder fünfzehn Sekunden nach Beginn seiner Prüfung geschah –, war in ihrem Fall zwischen ihren üppigen Brüsten tief ausgeschnitten. Sie kam voller Eifer herbei, warf ihr Haar zurück, drückte den Rücken durch und trat zu ihm heran.
    Die Nacktheit oder Fast-Nacktheit bei einigen der Zeremonien war so von symbolischem Brimborium befrachtet, dass jede Erotik beinahe im Keim erstickt wurde. Aber eben nur beinahe, denn wie edel die Gesinnung eines Menschen auch sein mochte, man konnte die Tatsache nicht vollkommen ignorieren, dass man jemanden betrachtete, der nackt war und erstaunlich attraktiv. Die anschließenden Feste, insbesondere bei Initiationen, waren immer eine Grauzone. Alle ausgesucht schön, alle nur halb bekleidet, alle mit frischer Erinnerung an alle anderen als splitternackt, die ausgelassene Atmosphäre, der in Strömen fließende Wein, und schon war die nüchterne Zeremonie mit all ihrem Symbolismus vergessen.
    Diese Grüne wusste genau, was sie tat. Gavin war größer als die Frau, so dass er, solange sie so dicht bei ihm stand, kaum anders konnte, als auf ihre kaum geschlossene Robe hinabzustarren. Stattdessen betrachtete er ihr herzförmiges Gesicht, die haselnussbraunen Augen, deren Pupillen erst die Andeutung eines grünen Halos zeigten. Sie kam ihm bekannt vor.
    »Hierher«, sagte er und deutete neben sich, zwischen sich selbst und Mistress Varidos. Sie ging um den steinernen Tisch herum zu der Stelle, auf die er gedeutet hatte, kam ihm jedoch näher als notwendig.
    »Wer seid Ihr?«, fragte er mit kühler Stimme.
    »Mein Name ist Tisis«, sagte sie, und ihr Lächeln zeigte wunderbare Grübchen.
    »Tisis was?«
    »Oh«, erwiderte sie, als hätte sie nicht einen einzigen Gedanken im Kopf. »Tisis Malargos.«
    »Was ist passiert, Tisis?«, fragte er und tat so, als erkenne er ihren Namen nicht. Ihr Vater und Onkel waren seine Freunde gewesen – das hieß, sie waren Dazens Freunde gewesen. Nach dem Krieg waren sie verschwunden. Höchstwahrscheinlich getötet von Banditen oder versklavt von Piraten. Sie hatte das Aussehen der Familie geerbt. Zweifellos hasste sie ihn. Sie hatte gesehen, dass Kip eine Chance gehabt hatte, die Prüfung zu bestehen, also hatte sie ihn

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