Schwarzes Prisma
stehen und liegen. Gavin lächelte und nickte den Leuten automatisch zu, aber sie behandelten ihn, als sei er beinahe ein Gott. Niemand versuchte, Gavin selbst zu berühren, aber nicht wenige streiften seinen Umhang, als er vorbeischwebte.
Was mache ich unter diesen Menschen?
Vor einer Woche hatte Kip seiner von Drogen bis zur Bewusstlosigkeit berauschten Mutter Erbrochenes vom Gesicht und aus den Haaren gewischt. In ihrer Hütte. Mit einem Lehmboden. Niemand in ihrem Kaff hatte ihm auch nur die geringste Aufmerksamkeit geschenkt. Der Sohn der Süchtigen, das war alles, was er gewesen war. Vielleicht der fette Junge. Ich gehöre nicht hierher.
Ich habe niemals irgendwo hingehört. Mutter hat mir gesagt, ich hätte ihr Leben zerstört, und jetzt zerstöre ich das von Gavin.
Kip konnte nicht umhin, an die letzten Worte seiner Mutter zu denken und an das Versprechen, das er ihr gegeben hatte, als sie starb. Er hatte geschworen, sie zu rächen, und er hatte kaum etwas unternommen, um dieses Gelübde zu erfüllen.
Es hieß, Orholam selbst wache über Gelübde. Kip hatte noch nichts gelernt, und jetzt kehrten sie zurück.
»He«, sprach Liv ihn an, »warum so trübselig?« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm, der unter der Berührung zu kribbeln begann. Dann blieben sie an einem freien Anlegeplatz am Kai stehen, am unteren Ende einer Rampe, die ins Wasser führte. Hauptmann Eisenfaust wandelte eine Plattform aus Luxin auf dem Wasser, den ersten Baustein eines Ruderboots.
»Ich, ähm, ich weiß nicht. Ich schätze, ich bin einfach etwas niedergeschlagen. Wenn ich an Tyrea denke, denke ich auch an …« Und irgendetwas, von dem Kip nicht einmal gewusst hatte, dass es da war, versuchte ihm bei dem Gedanken an seine sterbende Mutter Tränen in die Augen zu treiben. Er unterdrückte sie und widmete sie jemandem, der seiner Trauer würdiger war. »Weißt du, ich hoffe, es geht deinem Vater gut, Liv. Er war … er war immer gut zu mir.« Er war der Einzige.
Doch selbst bei Meister Danavis hatte es eine Mauer gegeben, einen Punkt, den er Kip nicht hatte überschreiten lassen. Lag es nur an seiner eigenen Geschichte, die er geheim halten musste? Oder war da etwas Tieferes, etwas, das mit Kip nicht stimmte?
»Kip«, sagte Liv. »Es wird schon gut werden.«
Er sah sie an und konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Orholam hatte niemals eine schönere Frau erschaffen. Liv konnte mit ihrem Strahlen den Sonnenuntergang selbst beschämen. Er sank geradezu in ihre Grübchen hinein … Dann wandte er den Blick ab.
Kleiner Bruder, verspottete er sich selbst. Es macht Spaß, mit dir herumzualbern, aber du bist kein Mann. Die Verzweiflung drohte ihn vollends zu ersticken.
»Danke«, gelang es ihm, an dem Kloß in seiner Kehle vorbei hervorzustoßen. »Kann ich einen Imbiss haben?«, fragte er Eisenfaust.
»Ja, natürlich«, antwortete der große Mann.
»Wunderbar!«
»Wenn wir nach Tyrea kommen.«
»He!«
»Jetzt halt den Mund, Lord Prisma ist hier.«
Gavin, auf dem noch immer aller Augen ruhten, blieb vor Hauptmann Eisenfaust stehen. Er betrachtete Eisenfausts Rucksack. Lange Zeit blieben beide Männer stumm.
»Ihr könnt nicht mitkommen, ich nehme keine Leibwächter mit«, sagte Gavin schließlich.
»Ich begleite Euch nicht«, erwiderte Eisenfaust.
»Dann verlasst mein Boot.«
»Ich begleite Kip. Er ist ein Angehöriger des Prismas, und er hat ein Anrecht auf Schutz.«
»Ihr seid der Kommandant der Schwarzen Garde, Ihr könnt unmöglich …«
»Ich kann tun, was immer ich für angemessen halte, um die Pflichten der Schwarzen Garde zu erfüllen. Niemand darf sich in diese Angelegenheiten einmischen. Niemand.«
»Ihr seid ein listiger Bastard, nicht wahr?«, bemerkte Gavin.
»Das ist der Grund, warum ich immer noch hier bin«, sagte Eisenfaust. »Und es ist gut möglich, dass es auch der Grund ist, warum Ihr noch hier seid.«
Gavin schnaubte. »Ihr habt gewonnen, aber erlaubt mir, Euch an Eure Gelübde zu erinnern.«
Eisenfaust blickte gekränkt drein.
»Ihr werdet es bald verstehen«, erklärte Gavin. »Jetzt alle Mann an Bord.«
Mit schneller, geübter Hand wandelte Gavin einen langen Riemen, wie er sie benutzte, um das Boot anzutreiben, und ließ offenkundig Platz, damit Eisenfaust seinen eigenen Riemen wandeln konnte. In der Zwischenzeit wandelte Gavin eine Bank für Kip und Liv und Taue, um alle Taschen und Bündel im Boot festzuzurren.
Eisenfaust rümpfte die Nase, als frage er sich, warum die
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