Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
lässt das nicht zu, und sowieso, seit Elisabeth weg ist … Ob die Rosen also von dort sind, kann ich nicht sagen. Aber viele Rosen blühen bis spät im Jahr. Wenn sie einen geschützten Platz haben.«
Hanna half ihr, Gemüse und Obst aus dem Lager zu tragen. »Ich bin nicht so gut wie Bruno im Schleppen«, bemerkte sie, als sie sich mit einer Kiste abmühte. »Bruno hätte sicher zwei auf einmal geschafft.«
Sina setzte eine Stiege ab. »Ich weiß nicht, wie das hier ohne ihn gehen soll. Er ist immer für mich da. Und er versteht viel mehr, als manche denken. Diese Rosen, die bringt er mir, seit Felix verschwunden ist. Immer wieder. Es ist, als wolle er mich auf seine Art trösten, als spüre er als Einziger, wie es in mir aussieht.«
»Ich habe auch kürzlich jemanden verloren«, sagte Hanna Brock, öffnete ihre Jacke und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Ein Kind?« War die Redakteurin deswegen so verständnisvoll gewesen, als sie ihr von Felix berichtet hatte?
»Meinen Lebenspartner. Und meinen Job.«
»Das tut mir leid. Ist er … tot?« Sina fühlte sich Hanna Brock nahe in dem Moment. Nicht mehr ganz so einsam.
»Nein, er hat mich betrogen. Mein Ex-Chef auch. Auf seine Weise.«
»Sie sehen gar nicht so aus.«
»Wie?«
»Als könnte man Sie hintergehen.« Sina betrachtete Hannas makellose Haut und die Brüste, die sich unter der Kleidung abzeichneten und größer waren als ihre eigenen, so, wie sie sie sich auch gewünscht hätte. Die Redakteurin war nicht dünn, aber wahrscheinlich standen die Männer da draußen auf ihre Rundungen. »Sie wirken so selbstsicher. Irgendwie cool.« Und Sie sind freundlich, fügte sie in Gedanken hinzu.
Hanna Brock lächelte. »Das täuscht.« Sie wuchtete Krautköpfe in ein Regal.
Beziehung und ein bisschen Glück, das alles schien Sina so unerreichbar wie ein Lichtjahre entfernter Stern am Abendhimmel.
Damals, vor dieser Nacht, hatte sie noch daran geglaubt. Damals, als sie betrunken die tiefverschneite Auffahrt zu der Scheune hochgegangen war. Als sie geglaubt hatte, die Welt erobern zu können. Und ihn.
War sie verliebt gewesen? Oder war es der Ehrgeiz gewesen, ihn herumzukriegen? Sina war ihm mit der jugendlichen Gewissheit in das Heulager gefolgt, dass es richtig und gut war. Mit dieser Naivität, dass es für die Zukunft und ihre Lebensplanung keine Rolle spielte. Das Leben dauerte ja noch ewig.
Danach war er wortlos davongegangen.
Sie hatte sich unendlich geschämt. Vor den Eltern. Vor sich selbst. Und vor dem Kind, das in ihr wuchs. Sie hatte die Häme gefürchtet, die ihr im Dorf entgegenschlagen würde. Aus der Furcht war ein Alptraum geworden. Schlimmer als alles, was sie sich ausgemalt hatte. Die Nachrede. Der Verlust von Felix. Elisabeths Rückzug. Die einsame Suche, fiebrig, in Eis und Schnee. Die Flucht ihrer besten Freundin. Die anonymen Briefe. Hedwigs Tod. Antons Sucht.
Und jetzt begann ein neues Sterben und Gehen. Renate. Und Bruno, der im Gefängnis niemals leben könnte. Hinter Stäben.
Wie grotesk, dachte Sina plötzlich. Was für Bruno Freiheit bedeutete, nämlich das Dorf, war für sie selbst ein Käfig. Sie konnte ihn selbst dann nicht verlassen, wenn Menschen wie David ihr die Tür öffneten und sie die Luft der Freiheit schnupperte. Sie war abhängig vom täglichen Futter Hoffnung, wartete auf ein Lebenszeichen von Felix, außerstande und nicht willens zu sehen, was jenseits der Stäbe vielleicht auf sie wartete.
»Frau Vogel?«
Sina schrak auf.
»Ist alles in Ordnung?«
Sie nickte. Doch ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Das sieht aber nicht so aus.«
»Felix«, flüsterte Sina. »Ich muss immerzu an ihn denken.« Die Erinnerung an sein Gesichtchen zerriss sie innerlich. Manchmal wurde ihr flau, und nach besonders schlimmen Alpträumen spie sie das bisschen, was sie zuvor in sich hineingezwängt hatte, in die Kloschüssel.
»Sie sollten hier weggehen«, wiederholte Hanna Brock ihre Worte von vorhin. »Weg aus dem Dorf. David würde Ihnen helfen.«
Sina sah die Gitterstäbe vor sich. Meinte, die blonde schwangere Frau zu sehen, wie sie durch die Ladentür tritt und alles von vorn beginnt. »Genau das hat Elisabeth auch gesagt.«
»Elisabeth?« Brocks Frage war weder erstaunt noch vorwurfsvoll. Und sie legte auch nicht dieses falsche Mitleid an den Tag. Sie war einfach da. Es war gut, jemanden zu haben, der zuhörte, ohne zu verurteilen.
»Elisabeth war zwei Mal hier. Das habe ich auch Ihrem Freund von der
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