Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
Luft, als wollte sie etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders.
»Bruno ist ein Savant.« Er erzählte Hanna von Larssons Diagnose und fragte dann, nach einer kurzen Pause, in der sie nachdenklich dreinblickte: »Wie war die Wanderung?«
»Sie sehen es ja.« Hanna wackelte mit den Zehen, trat zum Waschbecken und bürstete sich die Haare. »Ich habe eine Route gefunden«, erzählte sie nebenher und deutete auf den Rechner, über dessen Monitor bunte Bänder schweiften. Der Bildschirmschoner. »Joseph Sommer hat mich begleitet. Beim Eingeben bin ich dann eingenickt.«
»Der Alte?« Wollte sie ihn aufziehen?
»Ich habe ihn in der Schlucht getroffen.« Sie drehte sich um, und ihr Haar fiel seiden über ihre Schultern. »Dort, wo Elisabeth starb.«
»Sie waren noch einmal am Tatort? Das ist –«
»Es war Zufall, ich bin nicht extra dorthin gelaufen.« Friedfertig blickte sie ihn an. »Jedenfalls war der alte Sommer dort. Es hat mich angerührt, ihn so verzweifelt an dem Moosbett seiner Tochter zu sehen. Als er mich bemerkte, wollte ich zuerst weglaufen. Aber dann ist er einfach im nassen Laub und Gras zusammengesackt und hat bitterlich geweint. Als er sich beruhigt hatte, sind wir zusammen einen Weg ins Dorf gegangen, den ich noch nicht kannte. Das war alles.«
Ehrlinspiel konnte es nicht glauben. War das Courage oder Leichtsinn? Auch wenn der Job eine Notlösung für Brock war, gefiel ihm der Gedanke nicht, dass sie auf moosigen Felsen und Baumstämmen herumkraxelte, an einem Tatort den Vater des Opfers traf und nicht einmal nach Hilfe telefonierte. Wo doch der Mörder wahrscheinlich noch frei herumlief. Doch es war nichts passiert, und er hatte sich auf den Abend gefreut.
»War sicher anstrengend für ihn«, antwortete er schlicht. »Und für Sie nicht unbedingt die beste Jahreszeit für Wege-Recherchen.«
Sie legte die Bürste auf die Spiegelablage. »Routen ändern sich nicht. Im Sommer führen sie auch dort entlang.«
»Sagen Sie das nicht«, entgegnete er. »Wege sind oft unergründlich.«
Hanna drehte sich um und sah ihn mit einem Blick an, der ebenso gut erstaunt wie ironisch sein konnte. »Und ob einer sich lohnt, sieht man erst, wenn man losgegangen ist.«
»Habe ich einen wunden Punkt berührt?«
»Dazu müssten Sie mir heute schon auf die Füße treten.«
»Das werde ich tun, wenn Sie mir nicht jedes Detail von Ihrer Begegnung mit Joseph Sommer erzählen.«
Sie zog dünne Socken und bequem aussehende Schuhe an. »Was bleibt mir bei dieser Drohung anderes übrig, Mylord?«
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28
Dienstag, 24. November
S ina spülte das Brot mit dem letzten Schluck Kaffee hinunter. Ihre Augen waren verklebt und schmerzten von der durchwachten Nacht. Über den Flur sah sie in das geöffnete Wohnzimmer, in dem ihr Vater laut schnarchend auf dem alten Sofa lag. Sein Mund stand offen, die Haare hingen über sein aufgedunsenes Gesicht. Die ausgebeulte Hose hatte er seit Tagen nicht mehr ausgezogen.
Auf Zehenspitzen schlich sie an Anton vorbei. Doch wozu leise sein? Er würde sowieso nicht aufwachen. Vormittags lag er im Dauerkoma. Wachte gegen Mittag erst auf und schleppte sich in die Küche. Und falls Sina in der Pause zu Hause war, grunzte er nach Essen und bettelte um Geld. Und jedes Mal steckte sie ihm etwas zu. Dann verschwand er zu Willi.
Wie dumm sie war. Doch was sollte sie tun? Er war ihr Vater. Der einzige Verwandte, der ihr geblieben war. Also spielte sie mit.
Sina zog ihre Stiefel an.
David hatte sein Angebot noch einmal erneuert: »Komm mit, das Dorf macht dich doch kaputt, und ich könnte deine Hilfe brauchen.« Doch wieder hatte sie ihn fortgeschickt, ohne zu erklären, was sie hier festhielt.
Es war ihr schwerergefallen als sonst. Denn jetzt hatte sie Geld. Bestimmt würde die Summe reichen. Elisabeth hatte ihr erzählt, dass sie gut lebte. Dass ihr Ehemann ihr die Wohnung übertragen hatte. Und die hatte sie jetzt geerbt.
Sie schlüpfte in die Jacke und krempelte die Ärmel ein Stück zurück. Das Kleidungsstück hing um ihren Körper wie ein Zelt. Sinas Mutter war größer gewesen als sie. Und runder. Auch als Sina noch vierzehn Kilo mehr gewogen hatte.
Manchmal legte sie ihrer Mutter Blumen aufs Grab. Bruno brachte sie ihr. Dazu einen kleinen Strauß für Felix, obwohl sie nicht wusste, was aus ihm geworden war. Doch so fühlte sie sich ihm nahe.
An das Gesicht ihrer Mutter konnte sie sich kaum erinnern. Das war seltsam. Auch die Kleinigkeiten aus ihrem gemeinsamen Alltag
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