Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
roten Streifen hat, das Geschirr zertrümmert, wenn das Brot nicht aus runden Scheiben ohne Rinde besteht? Das seinen Kopf gegen die Wand schlägt, wenn Sie ihm die Schokolade in Einzel- statt in Doppelrippchen brechen, und das sich schreiend auf den Boden wirft und strampelt wie ein verreckender Käfer, bloß weil es ein Kleidungsstück mit langen Ärmeln anziehen soll?«
Der Hauptkommissar erinnerte sich an die rindenlosen Brote, die Frieda ihrem Sohn am zweiten Ermittlungstag vorbereitet hatte. Auf Kante geschnittene Käsescheiben, darauf Schokolade. Zweierrippchen.
»Das Bauernvolk hat die Schuld bei mir gesucht. Und mit Bruno wollten sie auch nichts zu tun haben. Bis einer festgestellt hat, dass sein Acker, mit dem er Probleme hatte, über Nacht umgegraben worden war. Kleine Schollen hat er vorgefunden, anders, als er es selbst gemacht hatte. Und drunter, in die Erde eingearbeitet, waren Reste von irgendwelchen besonderen Gräsern. In dem Jahr hatte er den besten Ertrag seines Lebens. Ein anderer hat doppelt so viel Obst geerntet, nachdem Bruno auf seinen Wiesen gearbeitet hat. Da haben sie langsam kapiert, dass er nützlich ist. Plötzlich waren sie nett zu ihm, haben ihn angelacht, ihn mit Schokolade aufs Feld gelockt, wie ein Tier. Die hatten schnell raus, mit was man ihn ködern konnte. Und Bruno hatte keine Chance zu erkennen, dass es denen gar nicht um ihn ging.« Sie faltete die Hände. »Mich haben sie weiterhin ignoriert. Ich habe nichts gegolten. Ein sündiges Stück Dreck war ich. Eine, die die Seele eines armen Buben zerstört hat durch ihre Sünde, die ihn psychisch misshandelt hat, schlecht erzogen. Sie hätten sich nur umhören müssen, damals.«
»Und heute?« Ehrlinspiel hatte nichts dergleichen im Dorf gehört.
»Ich habe bewiesen, dass ich rein bin. Dass ich etwas gelte. Ich bin eine gute Hausfrau.« Sie nickte in die Küche. »Oder sehen Sie hier Dreck? Sünde? Lasse ich den Hof verkommen?«
Daher also die Schrubberei. Schrei nach Anerkennung.
Sie stieß Luft durch die Nase aus. »Ich hätte es natürlich einfacher gehabt, wenn ich zu der Prozession gegangen wäre. Bereut hätte. Das getan, was alle erwartet haben. Aber was hätte ich bereuen sollen? Das hätte ja wie ein Schuldeingeständnis ausgesehen.«
Du hättest bestimmt etwas gefunden, dachte Ehrlinspiel und fragte: »Sind Sie jetzt frei von den Vorwürfen?«
Frieda Sommers Mund verzog sich zu einer skurrilen Fratze. »Sina hat mich erlöst.«
»Sina?«
»Als die immer dicker wurde, da war ich plötzlich uninteressant.« Sie lachte auf. »Die Kleine hat geglaubt, keiner wüsste, dass da ein Kind in ihr wächst. Sie hat sich versteckt. Aber verbergen Sie hier mal was. Von da an war es Sina, die im Mittelpunkt stand. ›Die Hure‹, sagten sie, und dass sie’s mit dem Teufel getrieben hätte. Alles Quatsch. Aber ich weiß genau, wie die sich gefühlt haben muss. Und als das Kind dann verschwand«, ein Lächeln huschte über Friedas hartes Gesicht, »da war ich endgültig befreit. Sina, die Kindsmörderin. Sina, die neue Todsünderin. Brut des Bösen.«
»Wie praktisch«, sagte Ehrlinspiel sarkastisch. »Da konnten Sie ja kaum mit der Wahrheit herausrücken. Dass Felix tot war. Und wer ihn möglicherweise umgebracht hat.«
Frieda Sommer stand auf und zog den Bademantel über ihrem Dekolleté zusammen, das den Hauptkommissar an ein verknittertes Butterbrotpapier erinnerte. Er sah weg.
»Bruno ist kein Mörder«, zischte Frieda Sommer.
»Haben Sie mitgeholfen, die Gerüchte gegen Sina zu schüren? Diesen Quatsch, wie Sie es eben nannten?« Wie weit mochte Frieda gegangen sein, um nicht länger als Zielscheibe der Verleumdungen herhalten zu müssen und Bruno vor jedem aufkeimenden Zweifel zu schützen? Er traute ihr viel zu. Auch fiel es ihm schwer, bei ihr einen positiven Wesenszug zu finden. Diesen verschütteten Rest von Anstand, nach dem er stets suchte.
Ein paar Sekunden starrte sie ihn an, und in ihrem Blick lag wieder diese Angst, die er beim Hereinkommen schon wahrgenommen hatte. Dann begann sie, die Bücher und Zeitschriften in die Kiste zurückzuräumen. »Ich habe Bruno immer versucht klarzumachen, dass sein Verhalten auf mich zurückfällt. Aber er wollte nicht verstehen. Manchmal, da habe ich mich geschämt für seine dreckstarrenden Kleider, die Striemen und Schrammen, mit denen er immer aus dem Wald kam.«
Ehrlinspiel konnte förmlich zusehen, wie die Risse ihrer Maske zu einem breiten Spalt aufklafften und
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