Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
verschwand. Die Elisabeth, die sich nicht mehr meldet. Die sich verleugnen lässt und nicht ans Telefon geht, mich unter ihrem Fenster stehen und vergeblich rufen lässt. Mich allein lässt mit allen Qualen.«
Was wusste sie überhaupt von ihrer ehemaligen Freundin? Waren beide Bilder falsch?
Wie sie so still dasaß, spürte Sina die Kälte. Und mit ihr brach die Sehnsucht über sie herein. Diese Gier nach Wärme, Familie, ihrem Kind. So lange hatte sie sie aussperren können. Hatte auf ein Lebenszeichen von Felix gehofft und sich dabei in ihrer Leere eingerichtet. Ohne Zuneigung. Das Leben verleugnet.
Bis vor acht Tagen.
Als Lissi plötzlich durch die harte Wand des Nichts gebrochen war und einen Berg aus emotionalem Schutt hinterlassen hatte. Und ihr gezeigt, dass da noch Leben übrig war in ihr.
Sina war noch nicht tot.
Sie konnte noch nicht in den Schlund hinabsteigen. Sie musste wissen, was Elisabeth ihr noch hatte mitteilen wollen. Warum sie damals gegangen war. Sie musste endlich Klarheit haben. Diese innere Müllgrube leeren, die voll war mit den modernden Vorstellungen davon, was damals passiert sein konnte. Diese Wahnbilder, die ihre Seele auffraßen. Danach konnte sie neu entscheiden. Und wenn Lissi mit Felix’ Verschwinden etwas zu tun hatte, dachte sie, und mir deswegen das Geld vererbt hat, dann war ihr Tod vielleicht die Strafe dafür.
Fröstelnd stand sie auf.
Wer konnte etwas wissen, wer? Vielleicht …? Ja, sie würde mit dem letzten Menschen des Dorfes reden, der nach all den Jahren vielleicht eine Antwort wusste. Sie musste sich endlich überwinden, dorthin zu gehen. Zu Joseph Sommer. Lissis Vater. Ihr früherer Vertrauter.
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35
N och auf der Rückfahrt von der Gasfabrik telefonierte Ehrlinspiel mit Freitag und teilte ihm die neuen Erkenntnisse mit.
»Du musst es Sina sagen«, meinte Freitag.
»Ja.« Botschafter des Todes. Zum dritten Mal in diesen Tagen. Schneeflocken tanzten im Licht der Scheinwerfer, und die Scheibenwischer knackten in langsamen Intervallen.
»Deine Dame ist ein schreibender Star am Medienhimmel. Gewesen.«
»Brock?« Ehrlinspiel musste niesen.
»Gesundheit! Ja. Zahlreiche Auszeichnungen. Leitende Position in einem der renommiertesten Zeitschriftenverlage Deutschlands. Von einem Tag auf den anderen stand sie nicht mehr auf dessen Gehaltsliste.«
»Konntest du herausfinden, warum?«
»Ich habe kürzlich eine Todesanzeige archiviert, über der steht: ›Wenn man sich das so richtig überlegt, dann war das allerhand …‹ Das trifft ihre Situation genau. Ihrem Chef hat es quasi gefallen, sie mitten im Arbeitsleben abzuberufen. Der Rausschmiss hatte private Gründe. Was genau los war, konnte ich aber nicht herausfinden.«
Hanna hatte also die Wahrheit gesagt. Ehrlinspiel war froh.
»Bruno Sommer ist noch heute Nacht ins Zentrum für Psychiatrie gebracht worden«, sagte Freitag.
»Okay.« Er legte auf.
In Emmendingen war die Vogelscheuche am besten aufgehoben. Und Frieda, dachte er, könnte auch ein paar Wochen dort vertragen. Ihr Sohn steckt das Baby ihrer Tochter in die Tiefkühltruhe. Und sie beseitigt die Spuren. Es würde ihn nicht wundern, wenn sich Ähnliches schon vor zehn Jahren auf dem Hof abgespielt hätte. Als Bruno Felix begraben hatte.
Die Reifen seines Wagens glitten schmatzend zwischen den ersten Häusern des Dorfes hindurch.
Wussten noch mehr Familienmitglieder davon? War dies das Geheimnis, das in der unsichtbaren Truhe mit den breiten Stahlbändern wartete?
Er bog vom Schwarzengrund in die Kirchstraße ein. Auch hier lag alles still. Keine Menschenseele zeigte sich, und durch die Vorhänge der Häuser drang nur spärliches Licht. Sogar die Schornsteine schienen dünnere Rauchfahnen in den Himmel zu schicken als sonst. Ein Geisterdorf, dachte Ehrlinspiel.
Vor der
Heugabel
parkte er. In der Gaststube brannte kein Licht. Verwundert stieg er aus und blickte an dem Haus hinauf. Auch in Brocks Zimmer war alles dunkel. Ihr Anrufversuch fiel ihm ein, und er wählte erneut ihre Handynummer. Wieder vergeblich. Was hatte sie wollen? Und wo steckte sie? War sie zu Sina gegangen und hatte ihn brav informieren wollen? Fast musste er schmunzeln. Weit konnte sie jedenfalls nicht sein. Ihr Mazda MX -5 Roadster stand auf dem Parkplatz. Sein dunkel changierendes Pink war garantiert eine Speziallackierung.
Als er wenige Minuten später bei den Vogels klingelte, öffnete ihm Anton die Tür. In einer Hand hielt er eine grüne Flasche, er war
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