Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
unrasiert, und Ehrlinspiel roch trotz seiner verstopften Nase den scharfen Schnaps und Wein in seinem Atem.
Er wich zurück. »Nicht bei Willi heute?«
»Is su.«
»Issu?«
»Eschlossen.« Anton Vogel hielt sich am Türrahmen fest. Der Arm mit der Flasche baumelte leicht hin und her.
»Geschlossen? Das habe ich gesehen. Warum eigentlich?«
»Rabenpross…pross…« Die glasigen Augen versuchten Ehrlinspiel anzusehen, glitten aber weg.
Die Prozession! Er blickte auf die weißen Flocken, die sich auf seinen Mantel setzten und dort schmolzen. Der erste Schnee. Die Kneipe hatte zu, weil die Dörfler heute ihren Privatfasching feierten! Wahrscheinlich warfen sie sich gerade in diese kauzigen Kostüme.
»Wo ist Ihre Tochter Sina?« Ausgerechnet jetzt musste er ihr die schlimme Nachricht überbringen. War Felix nicht auch in einer Nacht geboren worden, in der der erste Schnee gefallen war?
»Is weg.«
»Wo, Herr Vogel?«
»Sch… Schommers.«
»Bei Sommers? Was will sie dort?«
Antons Arm schaukelte immer heftiger vor und zurück, und in der Flasche schwappte es bedenklich. »Weisch nich.«
Sie ist zu Renate gegangen, vermutete Ehrlinspiel. Um sich mit ihr auszusprechen. Umso besser. Wenn sie die Freundin an der Seite hatte, war es einfacher, von Felix’ mutmaßlichem Tod zu berichten.
Frieda trug einen hellbraunen Bademantel, und ihr kurzes graues Haar stand feucht vom Kopf ab. Ein winziger Anflug von Angst huschte über ihr Gesicht, als sie den Hauptkommissar sah, doch sie entspannte sich sofort und ging wortlos in die Küche voran. Auf dem Tisch stand ein Karton, in dem die Bücher und Zeitschriften gestapelt waren, die Hanna Brock gesehen haben musste.
»Ich suche Sina Vogel.«
»Morgen besuche ich Bruno.« Sie zog den Gürtel mit einem Ruck enger, als wolle sie sich selbst die Luft abschneiden. »Das geht doch, oder?«, schob sie zaghafter hinterher.
Ehrlinspiel nickte. Und für ihn bereitest du dich jetzt vor, dachte er. Bücher packen, Haare waschen, baden. Alles perfekt für den Besuch bei deinem prima umsorgten Kind. Fast schien ihm Frieda elend. Als säße sie selbst im Maßregelvollzug der Psychiatrie, in den vergitterten Stationen 25–29 für therapiebedürftige Straffällige. Ihre Maske war dünn heute. Das Holz wurmstichig.
»Ist Frau Vogel hier?« Er betrachtete Brunos Mutter und stellte sich vor, wie sie nach dem Schrubben der Tiefkühltruhe gebadet hatte, rötliche Schlieren vom Blut ihrer Enkelin um sie schwammen, ihre Haut verschrumpelt vom Wasser.
Ihn schauderte.
»Wieso sollte sie?«
»Möglicherweise ist sie bei Renate.«
»Renate«, echote Frieda und schob die Hände in die Ärmel. »Rennt in diesem idiotischen Rabenzug mit. Hermann, der Feigling, auch. Führt dieses verlogene Affentheater an.« Sie schüttelte den Kopf. »Sogar Joseph geht mit. Als könnte das alles noch irgendetwas ändern.«
»Was sollte es denn ändern?« Wenn er nicht bald ein Aspirin nahm, würde sein Kopf platzen.
»Bruno ist denen scheißegal.«
»Das glaube ich nicht. Aber im Moment können Sie wirklich nichts für Bruno tun.«
Aber, dachte er, du hättest all die Jahre etwas tun können, Frieda Sommer. Ihn fördern oder wenigstens den Rat eines Fachmanns einholen, deinem autistischen Kind eine optimale Entwicklung ermöglichen. Andererseits, fragte er sich nicht zum ersten Mal, stand ihm, Ehrlinspiel, ein Urteil über das Leben anderer Menschen an? Er fixierte die grauhaarige Frau. »Wissen Sie, was Bruno mit Elisabeths Baby getan hat, nachdem er es aus der Tiefkühltruhe genommen hat?«
Sie zuckte mit den Schultern, als ginge sie das alles nichts an.
Ehrlinspiel wurde wütend. Mit einem Ruck kippte er die Bücherkiste um und wühlte in den Magazinen, dann schob er ein Heft zu Brunos Mutter hinüber und schlug mit der flachen Hand darauf. »Hier.«
Frieda blickte kurz auf die Titelseite.
Eiskalt unter die Erde gebracht.
Verständnislos sah sie den Hauptkommissar an.
»Genau
das
hat Ihr feiner Sohn sowohl mit Ihrer Enkelin getan als auch mit Felix«, bellte er. »Mit Sinas Kind. Unter die Erde gebracht. Auch Sinas Kind ist tot. Und Sie wissen das.«
»Ich verstehe nicht.«
Ehrlinspiel verzog zynisch den Mund. »Oh doch«, sagte er und hoffte, dass der Schuss ins Blaue ein Treffer sein würde. »Sie verstehen sehr gut.«
»Sie spinnen doch.« Sie schob die Hände tiefer in die Ärmel.
»Das stimmt vielleicht«, sagte Ehrlinspiel leichthin. »Aber Bruno hat zwei Babys zu Dünger
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