Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
gemacht.« Er schlug die Zeitschrift auf.
Sie drehte sich beiseite. »Davon weiß ich nichts.«
»Lesen Sie«, befahl er, setzte sich und wartete, bis auch sie saß und die einführenden Zeilen überflogen hatte.
»Wirklich nicht«, flüsterte sie nach einer Weile.
»Aber Sie wissen von Felix. Die Babys wurden gekühlt, bevor sie kompostiert wurden.« Er beugte sich vor und durchbohrte Frieda mit seinem Blick. »In Ihrer Tiefkühltruhe, Frau Sommer.«
Langsam zog sie die Hände aus den Ärmeln und legte sie auf den Tisch. Ihre Augen hafteten auf ihren Fingern.
Stille breitete sich aus, nur die Uhr tickte gleichgültig an der Wand. Ehrlinspiel ließ sie nicht aus den Augen.
Da lächelte sie. Zum ersten Mal, seit Ehrlinspiel sie kannte. »Ich konnte doch mein eigenes Kind nicht verraten.«
Ehrlinspiel holte tief Luft, sein Brustkorb rasselte dabei. Es stimmte also. Bruno und Felix. Würde sie jetzt reden? Das war der Zeitpunkt, an dem er Frieda Sommer über ihr Zeugnisverweigerungsrecht aufklären musste. Einen Moment war er versucht, es nicht zu tun. »Als Brunos Mutter sind Sie berechtigt, Angaben vorzuenthalten, die Ihren Sohn und Sie selbst belasten würden«, sagte er widerwillig. »Ich frage Sie trotzdem: Hat Bruno auch Felix in Ihrem Keller gelagert? Zwischen Fleisch, Eis und Gemüse gekühlt?«
»Er hat ihn beerdigt.«
Ehrlinspiel fuhr auf. »Sie wussten das die ganze Zeit und haben Sina trotzdem zehn Jahre im Ungewissen gelassen!« Wut brodelte in ihm.
»Bruno hat Felix hergebracht«, sagte sie vor sich, abwesend, als hätte sie Drogen genommen. »Er hatte ihn unter seinem T-Shirt geborgen. Ganz liebevoll. Aber der Kleine war schon tot. Am Kopf hat vertrocknetes Blut geklebt. Bruno hat so gewimmert. Ich musste ihm doch helfen. Er ist doch mein Kind!«
»Und dann haben Sie Felix in die Tiefkühltruhe gelegt.« War der winzige Junge wirklich tot gewesen? Das Blut war längst kein sicheres Zeichen dafür. Ehrlinspiel durfte nicht darüber nachdenken. »Und dort lag er, bis Bruno ihn mit dieser Methode«, er tippte auf das Heft, »zu Dünger machen konnte.« Als er Friedas selbstverständliches Lächeln sah, schmeckte er Galle.
»Ich wusste nicht, dass er die Kinder … auf diese Weise begraben wollte. Aber er hat Felix bestimmt einen schönen Platz gesucht. Getötet hat er ihn sicher nicht. Und auch keinen anderen Menschen. Bruno ist ein gutes Kind. Er liebt das Leben.«
Mein Sohn, das engelsgleiche Wesen, dachte Ehrlinspiel. Wenn die Welt nur so wäre, wie die Mütter sie sich zurechtzimmerten. Dann wären alle Jungs die Güte selbst, es gäbe keine Gewalt, keine Kriege und allerorts Liebe im Überfluss.
»Wissen Sie, was Sie Sina damit angetan haben?«
»Ihr geht’s nicht schlechter als mir.«
Du widerwärtiges Teufelsweib, dachte Ehrlinspiel und fragte sich, welche Pflanze Bruno seiner Mutter wohl zugedacht hatte. Eine hochgiftige mit langen Stacheln? »Wo hat er Felix begraben?«
»Bruno hat auch seine Geheimnisse, Herr Kommissar. Wie Sie.«
»Hier geht es um Mord«, sagte er hart und hoffte, sie würde nicht von ihrem Recht Gebrauch machen und plötzlich die Aussage verweigern. »Also: Wo ist Felix?«
Sie hob die Schultern. »Das weiß ich nicht. Er hat ihn ein paar Tage später aus der Tiefkühltruhe geholt.«
»Und Sie haben sich nie gefragt, was er mit ihm gemacht hat? Nicht reagiert, als er auch noch mit Elisabeths Kind ankam?« Am liebsten hätte er sie sofort festgenommen. Doch das eigene Kind zu schützen war nicht strafbar.
Sie sah ihn an, und in ihren kleinen grauen Augen lag eine Mischung aus Resignation und Hass. »Wissen Sie, wie das ist, wenn man ein behindertes Kind hat? Wenn man gemieden wird, nie eingeladen – weil der Sohn anders ist? ›Die Sommer hat sich versündigt‹, haben sie gesagt. Und gemunkelt, dass mein Bruno die Strafe Gottes dafür sei. Der Lauinger, der hat mir in der Kirche einmal ins Ohr geflüstert, dass der Rabenmann mir ›diesen Balg‹ geschickt hat, weil ich die Prozession verweigere.« Ihr Blick haftete auf ihren Händen. »Die haben keine Ahnung. Ich habe nicht gesündigt. Mein ganzes Leben nicht.«
Nun, die eine oder andere kleine Sünde wird schon dabei gewesen sein, dachte Ehrlinspiel.
»Können Sie sich vorstellen«, redete sie weiter, »wie es ist, ein Kind zu haben, das nie auf ein Lächeln reagiert? Das Sie nicht in den Arm nehmen können? Das jede kleinste Veränderung ablehnt, auf den Spiegel eindrischt, wenn die Zahnpasta keine
Weitere Kostenlose Bücher