Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
Kleine ist mir aus dem Arm gefallen. Auf den Stein. Die Schneedecke war so dünn.« Ein weinerlicher Laut drang zu ihnen herab. »Ich kann nichts dafür.«
Und dann, dachte Ehrlinspiel, hat Bruno ihn zu Dünger gemacht. Elisabeth wusste, dass er tot war und Hermann dafür verantwortlich. Das hat sie nicht ertragen und ist geflohen.
Er hielt Hanna Brock fest. »Sie rühren sich nicht von der Stelle.«
»Moment mal –«
»Keine Widerrede! Mit den Schuhen können Sie auch gleich freiwillig springen.«
Er drückte der murrenden Redakteurin seinen Mantel in die Hand, ließ sie stehen und tastete sich vorsichtig über die glitschigen Bohlen zum Plateau hinauf. Das Geländer war an mehreren Stellen gebrochen, links und rechts lag der Abgrund. Wie um alles in der Welt sollte hier die Prozession heraufkommen?
Bitte,
flehte er leise zu irgendeiner Macht,
lass mich nicht das Gleichgewicht verlieren
.
Evers war jenseits des Felsens kaum zu hören. »Was haben Sie mit dem toten Felix gemacht?«, vernahm Ehrlinspiel sie jetzt vom Plateau aus, wo er angekommen war. Rechts von ihm sprudelte das Wasser aus einem großen Felsspalt, und vor ihm, kaum zu erkennen im Schnee, standen Hermann und Sina. Unter ihnen der Halbkreis von Menschen. Dahinter ahnte er den dunklen Wald und irgendwo im weißen Nichts, den Hang hinab, die Häuser des Dorfes. Für einen Augenblick faszinierte ihn dieses Bild, doch sofort war er wieder ganz Profi. Auf allen vieren kroch er nach vorn Richtung Felskante. Immer wieder sah er sich suchend um. Hatte Hanna Brock sich nicht doch getäuscht?
»Bruno hat ihn begraben«, antwortete Hermann auf Evers’ Frage, doch er schien mehr zu sich selbst zu sprechen als zu ihr oder den Dorfbewohnern. »Alles war gut. Bis Elisabeth in unsere neue Welt eingebrochen ist. Sie wollte alles verraten. Sie hätte mein Leben zerstört! Das Leben des Dorfes. Meiner Familie. Ich hätte alles verloren.«
»Du hattest doch mich«, drang Renates Weinen herauf. »Ich … ich habe dich geliebt. Aber statt mir zu vertrauen, bringst du meinen Bruder um!« Sie erhob sich und blickte herauf.
Ehrlinspiel bewegte sich nicht.
»Lass wenigstens Sina frei, sie hat doch nichts getan«, flehte Renate. »Du hast schon genug Unheil über uns gebracht. Was hast du davon, sie auch noch zu töten?«
Sina begann zu schluchzen, und im selben Moment erlosch die zweite Fackel auf dem Plateau. Jetzt hoben sich die beiden Gestalten nur noch wie Scherenschnitte von den Fackeln der Menge ab.
Schaffen Sie ein Überraschungsmoment, versuchte er, seine Gedanken zu Evers hinabzusenden. Vielleicht lockert Hermann dann seinen Griff, und Sina kann sich nach hinten werfen. Er robbte mit dem Funkgerät näher an die Quelle heran. Ihr Wasserrauschen würde seine Anweisungen an Evers für Hermann übertönen, und der würde hoffentlich auch nicht merken, dass Evers unten in ein Funkgerät horchte.
Das Gerät knackte, und Ehrlinspiel hielt den Atem an.
Hermann lauschte kurz in die Stille, drehte sich jedoch nicht um.
Leise sprach der Hauptkommissar in das Walkie-Talkie. »Ich bin oben. Sagen Sie Hermann auf den Kopf zu, dass Bruno Felix nicht begraben hat.«
Die Polizeiobermeisterin folgte sofort und schrie Ehrlinspiels Aussage herauf.
Er sprach weiter in das Funkgerät, und von unten rief Evers die Wiederholungen nach oben: »Er hat Felix zerstückelt. Nachdem er ihn in der Tiefkühltruhe Ihrer Mutter gelagert hatte. Wussten Sie das? Haben Sie ihn dazu angestiftet?«
Sekundenlang geschah nichts. »Nein!«, schrie Hermann dann. »Er sollte ihn einfach nur … wegbringen.«
»So wie Ihre Schwester auch?«, brüllte Evers. »Oder verlangten Sie nur, dass er ihr Baby stehlen sollte?«
»Verdammtes Schwein!«, bellte plötzlich jemand in der Menge.
»Mörder!«, keifte eine Frauenstimme.
Der brodelnde Kessel droht überzukochen, dachte Ehrlinspiel und hielt den Mund direkt an das Mikrofon: »Sie haben Elisabeth aufgelauert, nachdem Sie am Mittwochabend mit ihr gegessen haben und nachdem sie Ihnen erzählt hat, dass sie die Karten auf den Tisch legen will.« Evers wiederholte laut. »Sie haben beobachtet, wie sie mit Johannes spazieren ging«, raunte Ehrlinspiel weiter und schob sich während der folgenden Worte zu den beiden nach vorn. Evers sprach nun fast simultan mit ihm. »Dann sind Sie mit ihr zur Schlucht gelaufen und wollten sie überzeugen, den Mund zu halten. Aber sie wollte sich nicht darauf einlassen. Habe ich recht? Also haben Sie nach dem
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