Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
Alter und die Ausprägung der Krankheit an. Eine intensive Förderung kann viel bewirken. Ein großes Problem bleibt aber die Neurologie. Wenn gesunde Menschen jemanden anschauen, aktivieren sie den Gyrus forsiformis, bei einem Gegenstand den Gyrus temporalis. Dieser –«
»Sprich Deutsch mit mir, bitte.«
Larsson stöhnte theatralisch. »Normale Menschen benutzen verschiedene Gehirnteile, je nachdem, was sie anschauen – ein Gesicht oder ein lebloses Ding. Autisten schalten nur eine Hirnregion ein, nämlich die für das Erkennen von Gegenständen. Sie reduzieren dich sozusagen auf einen Tisch, ein Auto, eine Vase. Denen ist es scheißegal, ob du lachst, drohend schaust oder weinst.«
»Empathielose Ritualgehirne.«
»Moritz!« Larsson lachte. »Du wirst mir ja richtig sympathisch!«
»Das war ein Zitat von
dir
.« Ehrlinspiel streckte sich und schlug mit dem zusammengerollten Papier nach dem feinen Netz. Die Spinne hakelte sich ein paar Fäden weiter und blieb dort sitzen.
»Hätte ich mir ja denken können.« Der Mediziner klang schnippisch. »Aber um es kurz zu machen: Vergiss die Typen. Bringt nichts. Du mühst dich ab, und es kommt nichts rüber. Das sind dann diese kleinen Teufel, Jungen vorwiegend, die ihre Eltern zum Wahnsinn treiben, ewig versorgt werden müssen und ihr Leben nie selbst auf die Reihe kriegen.«
Zum zweiten Mal schlug Ehrlinspiel nach der Spinne. Sie plumpste schwer in das Waschbecken.
»Kennst du einen Autisten?«, fragte der Kommissar.
»Mir reicht, was in den Büchern steht.«
»Na dann. Schönes Wochenende.« Ehrlinspiel drehte den Wasserhahn auf. Gurgelnd verschwand die Spinne im Abfluss.
Nachdenklich setzte er sich auf das Bett. Was Larsson jetzt wohl tun würde? Am restlichen Wochenende? Fachbücher lesen? Ihm fehlten mit Sicherheit eine Frau und Kinder. Welche Verletzung hatte der Rechtsmediziner erfahren, welche Wunden waren nur oberflächlich geheilt, drohten stets aufzureißen, dass er selbst so verletzend und sarkastisch geworden war?
Larssons Privatleben gehörte zu den großen Unbekannten im Kollegenkreis. Ehrlinspiel stellte sich manchmal vor, wie Reinhard Larsson nach dem Aufschneiden toter Körper in eine kubistische Villa zurückkehrte, mit hallenartigen Räumen. Wie er sich nackt auf ein großes Bett aus Stahl legte, mit einem kühlen Laken zudeckte, in einem Zimmer mit hohen Betonwänden. Wie er sich der Phantasie nach einem weichen Frauenkörper überließ, den er als Teil eines bizarren Liebesaktes mit einem schmalen Skalpell aufschlitzte, um das fremde, warme Blut an seinem Körper zu spüren. Um nicht an seine eigenen Schmerzen denken zu müssen.
Das war natürlich zu dramatisch. Larsson war wahrscheinlich ein ganz normaler Profilneurotiker, der einfach den Anschluss an das soziale Leben verpasst hatte – ganz ohne grausiges Schlüsselerlebnis oder schwere Kindheit im Hintergrund. Oder konnte es sein, dass alleine die Grausamkeiten, mit denen er täglich hautnah konfrontiert war, ihn zu einem so schwierigen Menschen hatten werden lassen? Dass sein Verhalten ein Panzer war? Ehrlinspiel glaubte es nicht – denn Larssons Kollegen waren durchweg sehr freundliche Zeitgenossen. Vielleicht konnte er sich deshalb nicht gegen seine Phantasien um das Rätsel Larsson wehren. Ab und zu genoss er sie sogar. Doch jetzt musste er sich auf die Ermittlung konzentrieren. Auf Johannes Beyer.
Er öffnete eine Tafel von Freitags dunkler Schokolade. Die bitterdunkle Süße zerschmolz auf seiner Zunge.
Die Verdachtsmomente gegen den Ex-Freund Elisabeths waren stark.
Sicher würde Ehrlinspiel ihn zum Reden bringen, wenn er ihn statt in seiner vertrauten Umgebung in der Polizeidirektion vernahm und ihm damit seinen psychologischen Rückzugsraum verwehrte.
Der Hauptkommissar stützte den Kopf auf die Hände. Fünf Minuten später schloss er sein Zimmer von außen ab.
Es kratzte, als ein Eichhörnchen den rauhen Stamm des Baumes hinaufkletterte und von der fast kahlen Krone auf ihn und Monika Evers herabblickte.
Er klappte den Regenschirm zu, den der Wirt ihm geliehen hatte, und drückte den Daumen fest auf die Klingel, so als könnte er mit der Kraft die Dringlichkeit seines Anliegens verstärken. »Ich übernehme ihn, Sie kümmern sich um seine Frau«, wies er Evers an.
Das Summen der Klingel verhallte, nichts geschah. Auch kein Bellen war zu vernehmen.
»Keiner da«, stellte die Polizeiobermeisterin fest. Über ihrer Uniform trug sie eine überdimensionierte
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