Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
gelesen?«
»Nein. Wieso?« Er drehte den Kopf etwas und sah sie beim Gehen aus den Augenwinkeln an.
Misstrauischer Typ, dachte sie. Obwohl er eigentlich recht attraktiv aussieht mit seinem neckischen Haarwirbel und den grünen, wachen Augen. »Dann wüssten Sie, dass ich keine Informationen verkaufe. Dazu hätte ich bereits genügend Gelegenheiten gehabt. Die Blätter wären voll von blutrünstigen Schlagzeilen, das können Sie mir glauben.« Dass sie die Story dank des Walrosses nicht an große Magazine und Zeitungen verkaufen konnte, behielt Hanna für sich. Und die lokalen Blätter lohnten finanziell nicht. Schlimmer noch: Bei ihnen liefe Hanna Gefahr, dass sie die Story als ihre eigene ausgaben. Und sie später als diejenige dastand, die in ihrem Wanderführer einfach ein paar fremde Artikel eingearbeitet hatte.
Doch ihr großer Tag würde bald kommen: der Wanderführer mit der
Schwarzen Route
. Ganz allein ihr Werk, persönlich recherchiert. Vielleicht könnte sie ihrem Auftraggeber sogar das Konzept verkaufen und würde dann mit weiteren Wanderführern für andere Regionen beauftragt. Das wäre ein echter Triumph über das Walross. Hanna schmunzelte.
»Was ist daran so lustig?«, fragte der Hauptkommissar.
»Nichts. Ich musste grade an jemanden denken.«
An der Wegbiegung wurde Hanna langsamer. »Waren die älteren Herrschaften die Eltern von Bruno? Und von Elisabeth?«
Er zögerte. »Ja.«
»Sie kannten Bruno schon, oder?«
Er nickte. »Ein Autist.«
»Das Gewächshaus ist doch irre, oder?«
»Ganz hübsch.« Er sah ausdruckslos drein.
»Hübsch?« Sie blieb stehen und blickte ihn an. »Es ist ein Kunstwerk!« Der Kommissar hatte offenbar keinerlei Sinn für Ästhetik.
Er grinste.
»Was lachen Sie?«
»Nichts. Ich musste gerade an jemanden denken.«
Er nimmt mich auf den Arm, dachte Hanna. »An wen – wenn ich fragen darf?«
»Meine Mutter.«
Seine Mutter! Bei Hanna schrillten sämtliche Alarmglocken. Der Typ läuft neben einer, wie man sagte, attraktiven Frau her und denkt an seine Mutter?
Mit schiefem Lachen sah der Hauptkommissar sie an. »Sie wünscht sich schon immer ein Gewächshaus.«
»Aha.«
»Und Sie haben natürlich recht. Es ist ›irre‹. Sozusagen im wahrsten Sinne des Wortes.«
»Hat der Autist das angelegt, Bruno?«
»Soviel ich weiß.«
»Was hat ihn bloß so schrecklich provoziert?« Hanna dachte an ihren Vater. Wie einfach es war, mit einem Tropfen Öl im Feuer seiner Befindlichkeiten einen schrecklichen Brand zu entfachen. Wie damals, an dem Morgen, als sie Michael aus dem Haus schmuggeln wollte. Micha, den Sohn ihrer Putzfrau. Den Beschmutzer des mit Pseudomoral polierten Brockschen Nests. Hanna hatte den ganzen Vormittag neben dem Gartenteich gehockt, weinend, und hatte durch die Glasfront des Hauses beobachtet, wie der Vater, auf seinen Stock gestützt, neben der Mutter herstolzierte und überwachte, wie diese das Haus desinfizierte. Schließlich, als die Mutter das Mittagessen vor den Vater gestellt hatte, war Hanna mit einer metallenen Reiherstatue gegen die Scheibe gerannt. Natürlich war nichts passiert. Sicherheitsglas. Dafür Hausarrest. In der Kammer neben der Toilette. Kein Licht. Leseverbot. Telefonverbot. Aber das alles konnte man sicher nicht mit Bruno vergleichen. Und es war vorbei.
Ehrlinspiel sah sie an, antwortete aber nicht gleich auf ihre Frage. »›Schnipp, schnapp‹ vielleicht?« Er ging weiter.
»Aber das ergibt doch keinen Sinn.« Hanna gesellte sich wieder an seine Seite.
»Wer weiß.«
»Oder glauben Sie vielleicht, dass er … ja! Vielleicht hat ihn das herausgeschnittene Baby seiner Schwester so arg mitgenommen.«
Ehrlinspiel biss sich auf die Unterlippe.
Hanna hielt erneut an. »Sie glauben doch nicht, dass Bruno seine Schwester …? Nein, niemals!«
»Was denken Sie denn, wer es war? Sie verfolgen doch ›interessante Spuren‹?«
»Das liegt doch auf der Hand.«
»Tatsächlich?«
»Klar. Johannes. Es ist, wie Willi sagt: Der Kerl ist immer noch verliebt in Elisabeth. Seine Frau macht ihm das Leben schwer, also bleibt er auch in der neuen Beziehung unglücklich. Elisabeth kommt schwanger von einem anderen zurück, will nichts mehr von ihm wissen – er tötet sie im Streit. Sofort bereut er es und legt sie deshalb wie in einem Bett auf der Lichtung ab. Ein Eifersuchtsdrama.«
»Und warum schneidet er ihr das Baby aus dem Bauch?«
Hanna zog eine Schnute. »Weil es nicht seins ist? Quasi als Symbol: Wenn nicht er
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