Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
rote Steppjacke, ihre Füße steckten in spitz zulaufenden braunen Stiefeln. Jetzt sah sie noch etwas kugeliger aus. Ehrlinspiel musste wieder an das Bild des Igels denken.
»Er ist abgehauen.« Er sah die Wege entlang, doch die verloren sich in der nassen Dämmerung. Intensiver Schafgeruch hüllte sie ein.
»Das wissen wir nicht. Vielleicht ist er nur einkaufen. Mit seiner Frau.«
»Nie und nimmer. Die beiden sind Kampfhähne, sie gehen sich aus dem Weg. Außerdem ist es schon viel zu spät für Besorgungen.« Ehrlinspiel fluchte heimlich über sich selbst. Er hätte nicht erst zu Evers fahren und sich besprechen sollen. Beyer gleich vorläufig festnehmen, das wäre besser gewesen.
»So rückständig leben wir dann auch wieder nicht.«
»Was?« Verwirrt drehte er sich zu Evers, und sein Blick blieb kurz an den Ponyfransen hängen, die ihr in die Stirn fielen.
»Manche Supermarktketten haben tatsächlich festgestellt, dass es auch in der Provinz Menschen gibt, die samstags einkaufen müssen.«
»Großer Gott, Evers, so war das doch nicht gemeint«, fauchte er und erschrak sofort über seine eigene Heftigkeit.
Evers sah zu Boden. »Ich hätte nichts sagen sollen.«
»Nein, nein, ich bin bloß verärgert, weil der Kerl weg ist. Sie haben nichts falsch gemacht.«
»Was tun wir jetzt?«
Statt zu antworten, rief Ehrlinspiel im Gasthaus an. Johannes Beyer war nicht dort. Der Kriminalhauptkommissar ging um den Hof herum. Evers folgte ihm. Mit Taschenlampen leuchteten sie in die Fenster, doch die Zimmer waren leer und dunkel. Sie gingen zur Garage. Das Tor stand offen, innen lehnten zwei einsame Fahrräder neben einer Schubkarre. Das Auto fehlte.
»Die Tiere!« Evers berührte Ehrlinspiel an der Schulter. »Hören Sie doch!«
Lautes Blöken drang aus dem Stall.
»Ich höre nichts Ungewöhnliches«, erwiderte er.
Evers rannte über den Hof und riss die Stalltür auf. »Die Raufen sind leer. Deswegen schreien die so.«
Ein langgestrecktes Muhen brach durch das Rufen der Schafe. Evers schaltete das Neonlicht ein, lief ein paar Schritte und blieb abrupt vor der ersten Box stehen. »Scheiße!« Sie warf ihre Jacke auf den Boden. »Los, helfen Sie mir!«
Jetzt sah es auch Ehrlinspiel: Zwischen den Hinterbeinen einer liegenden Kuh hingen zwei Beine und ein mit Schleim überzogener Kopf heraus. Die Augen des Muttertiers waren weit aufgerissen.
»Verdammt, Evers. Lassen Sie doch das Vieh. Wir sind hinter einem Mörder her. Und der geht uns womöglich durch die Lappen!«
»Es steckt fest.« Evers kniete bereits und band zwei Stricke um die kleinen Beine. »Sie schafft es nicht alleine. Ich nehme ein Bein, Sie das andere. Und nur daran ziehen, wenn ich es sage. Ganz sanft. Und immer gleichzeitig mit mir.«
»Wir haben jetzt keine Zeit für so etwas.«
»Hören Sie«, fauchte die junge Frau, »es stirbt sonst, samt dem Muttertier. Also machen Sie schon!«
Ehrlinspiel schluckte. »Nein! Und Sie kommen mit mir mit. Wir suchen Beyer!« Er fühlte sich wie ein Verräter am Leben.
»Bitte!« Sie sah zu ihm hoch, und ihre Stimme schlug in einen flehenden Ton um.
Er starrte auf die Szene. Er konnte Evers verstehen. Aber er war Bulle. Keine Hebamme. Erneut rief er in der
Heugabel
an und instruierte Willi, sofort zwei Männer zu schicken. Nur wenige Minuten später waren sie da, der kleine Walter und ein zweiter Helfer, packten wortlos an, und Ehrlinspiel trat mit Evers vor den Stall.
Betreten sah sie ihn an. »Ich liebe Tiere.«
»Ich auch.« Ernst erwiderte er ihren Blick. »Sie hatten recht. Hier stimmt etwas nicht. Der Beyer liebt seine Tiere, der würde sie nie hungern und erst recht keine kalbende Kuh alleinelassen.« Aber seine schwangere Frau, die hätte er schon alleinegelassen, dachte Ehrlinspiel, sagte aber nichts.
»Vielleicht ist ihm etwas passiert?« Evers war verdreckt, der Regen verbesserte ihr Aussehen kaum. Ihre Uniform würde schleunigst in die Reinigung müssen.
»Getürmt ist er.« Johannes Beyer drohten ein Mordprozess und eine lange Freiheitsstrafe. Unter dem Aspekt wären selbst ihm hungernde Schafe und eine kalbende Kuh garantiert egal.
»Was schlagen Sie vor?« Sie schob sich eine nasse Haarsträhne aus dem Auge.
»Wir schreiben ihn zur Aufenthaltsermittlung und Gewahrsamnahme im Fahndungssystem aus.«
»Und wenn er unschuldig ist und nur die Selbstjustiz des Dorfes fürchtet? Weil jeder denkt, er sei der Mörder?«
»Selbstjustiz?«
»Provinz.« Zum ersten Mal sah Ehrlinspiel ein
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