Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
gewesen, die seine Badmosaiken verfugt und die Küche eingebaut hatte. Ohne sie und die hilfreichen Hände einiger Kollegen wäre seine Wohnung weder zum schmucken Loft geworden noch finanzierbar gewesen. Bei der Einweihungsfeier hatte sich Finnja schon wieder auf Tour an der Küste Kretas befunden. Ehrlinspiel dagegen schätzte sein Zuhause, seinen festen Job und war handwerklich eine Niete.
Er las die anderen Nachrichten und klickte sich dann durch die Tatortfotos. Es war Nachmittag, doch in das kleine Zimmer drang kaum Licht. Der wolkenverhangene Himmel und der Regen tauchten Straßen und Häuser erneut in ein düsteres nasses Einheitsgrau. Der Lichtblick des Morgens war kurz gewesen.
Ehrlinspiel zoomte die Bauchwunde der Toten heran. Die Ränder sahen glatt aus, wiesen jedoch in regelmäßigen Abständen kleine Einschnitte auf, soweit sich das neben dem schwarz geronnenen Blut erkennen ließ. Wahrscheinlich die Stellen, an denen die Schere jeweils zu einem neuen Schnitt angesetzt worden war.
Er erreichte Reinhard Larsson im rechtsmedizinischen Institut.
»Glatter Fehlgriff, Moritz«, begrüßte der ihn.
»Die Schere, die ich euch heute Nacht geschickt habe?« Ehrlinspiel stellte sich breitbeinig in die Mitte des Zimmers.
»Die Klingen sind zu scharf. Die gesuchte Tatwaffe zeichnet sich außerdem durch gleichmäßige Mikroeinkerbungen an der unteren Klinge aus. Das lässt sich anhand der Verletzungen von innerer Bauchfaszie und Subcurtis nachweisen. Das Peritoneum zeigt –«
»… dass die Schere kleine Macken hat.«
»Du wirst weitersuchen müssen.«
Ja. Bei Johannes Beyer, dachte er. Er schlägt seine Frau im Streit. Sofort danach bedauert er es. Ich habe es selbst gesehen. Genauso könnte es bei Elisabeth gewesen sein. Brock hatte es ganz richtig formuliert:
Er tötet sie im Streit. Sofort bereut er es und legt sie deshalb wie in einem Bett auf der Lichtung ab.
Der Hauptkommissar war erleichtert. Zwar hatte sein nächtlicher Ausflug ihn nicht vorangebracht. Wäre ja auch zu einfach gewesen, wenn der Außenseiter der Bösewicht wäre. Doch zumindest war Bruno in diesem Punkt vorerst entlastet. Natürlich konnte er noch andere Gartenscheren besitzen. Doch er hatte ja auch Bertha Webers Alibi. Ehrlinspiel hegte Sympathie für die seltsame kluge Vogelscheuche. Vielleicht weil Bruno zu den Schwachen zählte, die in ihm eine Art Beschützerinstinkt wachriefen. Was man von Beyer kaum behaupten konnte. »Kannst du mir in drei Sätzen erklären, was Autismus ist?«, fragte er Larsson.
»Eine entwicklungsneurologische Störung mit anatomischen Veränderungen in Kleinhirn, Stammhirn und limbischem System, meist der Amygdala. Defizite bestehen in der basalen und der Sinneswahrnehmung, Motorik, Sprachentwicklung und in einer Dysfunktion des Spiegelneuronensystems. Das Krankheitsbild ist vielfältig und komplex, die Ursachen werden nach neuesten Studien in Erbgutvariationen vermutet.«
Ehrlinspiel seufzte laut. Larsson musste immer alles wörtlich nehmen. »Geht’s auch ein bisschen genauer? Vielleicht anschaulicher?«
»Du wolltest drei Sätze.«
»Schon gut. Aber fachchinesische Lexikonartikel kann ich auch selber lesen.« Ehrlinspiels Blick fiel auf ein Spinnennetz in der Ecke über dem Waschbecken. In seiner Mitte saß reglos ein dickes schwarzes Tier. »Also, was bedeutet das für Laien?«
»Dass du mit den wenigsten ein vernünftiges Wort reden kannst. Sie können keinen Zusammenhang herstellen zwischen Informationen und Erlebnissen. Sie wirken taub und bewegen sich eigentümlich. Viele sprechen nicht oder nur in Form von Echolalie.«
»Sie wiederholen, was andere sagen?« Liss, liss!, dachte Ehrlinspiel.
»Ja. Aber es gibt auch schwächere Autismusformen, zum Beispiel das Aspergersyndrom. Bei dem reden die Kranken recht normal.«
»Sind Autisten eines Mordes fähig?« Ehrlinspiel rollte mit einer Hand ein Blatt Papier zusammen.
»Nun ja, als Rechtsmediziner kenne ich mich natürlich auch ein bisschen in Psychiatrie und Neurologie aus.«
Ehrlinspiel sah Larssons hochmütiges Lächeln förmlich durch den Äther kriechen.
»Deswegen kann ich das fast sicher verneinen. Autisten leben in Ritualen. Sie schauen dich nicht an und werden hysterisch, wenn du ihnen zu nahe kommst. Die kapieren nicht, was Gefühle sind.«
Wie du, dachte der Hauptkommissar.
»Und ohne Hass oder Wut landet kein Mordopfer auf meinem Seziertisch.«
»Aber ein Autist versteht, was ich ihm sage, oder?«
»Kommt auf sein
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