Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
heraus. Er ist ein Nachtschattengewächs. Wie Bruno-Teufel. Alleine wachsend, krautig und oft übelriechend. Die Beeren aber sind süß und saftig.
Die Mutter rennt auf ihn zu. Fuchtelt. Er zieht den Kopf ein. Schnitte. Schrille Wörter. Aber sie greift nicht ihn an. Sie kreischt auf die Männer an seiner Seite ein.
»Lassen Sie ihn los, lassen Sie Bruno los!« Sie reißt einen Mann am Arm. Sofort kommen weitere Männer. Sie halten die Mutter zurück. »Mein Kind, was haben Sie mit meinem Kind gemacht! Es ist verletzt! Sein Gesicht, mein Gott –« Sie schlägt eine Hand vor den Mund.
Das ist gut, so kann kein zäher Schleim mehr herausfließen. Er lacht rauh.
Dann kommt der Ganzkomisch auf ihn zu. Der Polizist.
»Guten Abend, Bruno. Moritz Ehrlinspiel von der Kriminalpolizei Freiburg, erinnern Sie sich?«
Er lässt den Kopf sinken. Erlenspiel. So etwas Dummes. Das passt doch gar nicht zusammen. Erle und Spiel. Erle ist ein hellgrünes Wort. Es leuchtet. Schwarz-Erle, denkt Bruno. Schwarz-Erle ist besser. Alnus glutinosa. Das ist finster und fühlt sich rauh und rissig an. Wie Spiel. Das ist auch ein dunkles Wort. Ein Wort für die anderen.
»Wir müssen Sie mitnehmen.«
Die Räder in seinem Kopf setzen sich in Bewegung. Schwerfällig, knirschend. Mitnehmen? Das bedeutete, weg aus dem Paradies. Er heult auf.
»Wir haben den Leichnam Ihres Nachbarn Johannes Beyer in Ihrem Gewächshaus gefunden. Und Fleischklumpen in einem Beet. Sie sind verdächtig, Herrn Beyer ermordet zu haben sowie eventuell Ihre Schwester Elisabeth und deren ungeborenes Kind.«
Liss! Ophrys tenthredinifera.
Zerstört.
Leben vernichtet. Sein Herz krampft, wird fest wie ein Stück Pockholz, das hat er gelesen, das ist ganz hart, und das gibt es in Südamerika, und jetzt ist es in ihm. Von dem Holz geht ein Beben aus, erfasst seinen Brustkorb, den Bauch, Schultern, Arme und Beine, jeden Finger, jede Zehe.
Er muss sich wehren. Er darf das nicht zulassen. Muss es retten. Die Räder laufen schneller. Ein Schluchzen dringt aus seinem Mund, wird zum Schrei.
»Sie dürfen ihn nicht mitnehmen! Er zerbricht daran! Bruno ist unschuldig!« Er hört die Mutter wie durch blubbernde Lauge.
Die Lianen ziehen zu, reißen seine Arme auf seinen Rücken. Er kann sich kaum bewegen, sosehr er sich auch hin und her wirft.
Er versteht nicht, was passiert. Das Rad gewinnt an Schwung, doch es schafft keine Klarheit. Es wirbelt die Bilder durcheinander, sie brechen klirrend auseinander, erzeugen neue Splitter. Was hat er falsch gemacht? Was? Er hat gehorcht. Er ist ein Soll. Ein guter Soll. Ein
Bruno-Soll!
Dann spürt er den Stich im Arm. Erstaunt sieht er den Gesundmacher neben sich. Brandt. Der hat ihn schon oft gestochen. Die Mutter sagt, das ist, damit er nicht krank wird. Aber er wird nie krank.
»Das beruhigt dich, Bruno. Du musst keine Angst haben«, sagt der Gesundmacher. »Wir helfen dir.«
Doch er hilft ihm nicht. Er tut ihm nur weh. Der Gesundmacher bleibt stehen und schaut zu, wie die Männer ihn in ein Polizeiauto schieben und der Ganzkomisch sich neben ihn setzt. Bestimmt hat der Gesundmacher dem Ganzkomisch auch weh getan, denn der hat weiße Pflaster auf dem Kopf.
Bruno leistet keinen Widerstand. Er rutscht nur in eine Ecke. Die Hellmacher schmerzen nicht mehr.
»Du darfst ihnen nichts sagen, Bruno«, vernimmt er aus unendlicher Ferne. »Du musst schweigen, hörst du! Schweig still, mein Kind. Schweig still!«
Er geht auf nassen Erdschollen, weich, schwer, sinkt in eine lehmige Furche. Das Rad dreht sich langsamer. Läuft ein paar letzte Runden, schaukelt hin und her. Träge hin. Behäbig her. Dann steht es.
Draußen sieht er die Männer und die Mutter und den Halbkomisch. Lilium martagon. Sie redet mit der Frau, die auch polizistenschwarzgrau ist und geformt wie die Große Fetthenne, das Sédum teléphium, mit fleischigem Stiel und Rispenblüten. Er hat gehört, dass sie Monika heißt. Neben ihr stehen der Vater und Hermann, die Sonnenblume. Hermann ist gut zu ihm. Bruno mag seine Stimme. Sie ist hell und weich und so orange wie ein Krokus im Frühling. Hermann ist ein Frühlingssonnenkrokus.
Er drückt das Gesicht ans Fenster. Beginnt zu summen.
Der Frühlingssonnenkrokus wird ihn retten.
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20
Montag, 23. November
H ermann saß in der Küche.
Es war fast vier Uhr früh, und nur das einsame Ticken der Wanduhr erinnerte daran, dass die Zeit nicht stehengeblieben war.
Wie lange mochte er schon auf den Blumenstrauß mit den
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